Bestandsaufnahme. Innerhalb weniger Wochen verbreitete sich das neue Coronavirus über den Globus und führte in vielen Ländern zum Stillstand des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Im April 2020 hatten 178 Länder Reisebeschränkungen in Kraft gesetzt, 157 ihre Schulen geschlossen und 145 Staaten Quarantäne und Lockdown- Maßnahmen verhängt. Die Unternehmensberatung McKinsey errechnete, dass die deutsche Wirtschaft während des Lockdowns im April Einbußen von 15 Milliarden Euro verzeichnete – pro Woche. Mit einem Verlust von vier Milliarden Euro entfiel ein Großteil davon auf das produzierende Gewerbe, vor allem Auto-, Maschinen- und Anlagenbau, gefolgt von Gesundheits- und Sozialwesen (1,6 Milliarden Euro), Großhandel (1,1 Milliarden Euro), Hotellerie und Gastronomie (900 Millionen Euro) sowie Kunst und Unterhaltung (800 Millionen Euro). Für das Jahr 2020 prognostiziert die EU-Kommission einen Einbruch der EU-Wirtschaftsleistung von 7,4 Prozent, wobei Deutschland mit einem Minus von 6,5 Prozent weniger hart getroffen würde als Frankreich und Italien. Um die Folgen zu überwinden, stellt die EU Rekordsummen zur Verfügung.
Nach Schätzungen von McKinsey würde es dennoch bis 2028 dauern, bis Deutschland wieder den Wachstumspfad erreicht, den es ohne die Pandemie gegangen wäre. Unter einer Voraussetzung: Das Land muss die Chance nutzen und den digitalen Strukturwandel vorantreiben. Die Erfolgsaussichten dafür stehen gut. Viele Unternehmen haben ihre Prozesse Covid-19-bedingt im Zeitraffer digitalisiert. Wo oft jahrelang Bedenken gewälzt wurden, wurde nun einfach – gemacht. Der Microsoft-Vorstandsvorsitzende Satya Nadella brachte es auf den Punkt: »Wir haben zwei Jahre digitale Transformation nun innerhalb von zwei Monaten erlebt.«
Doch dies ist nicht der einzige gesellschaftliche und wirtschaftliche Transformationsprozess, der nun an Fahrt gewinnen kann. Denn die Corona-Zeit hat uns so klar wie nie die Schwachpunkte unseres Systems, aber eben auch die Chancen vor Augen geführt. »Der konjunkturpolitische Neustart der deutschen Wirtschaft muss in erster Linie eine Transformation in Richtung Nachhaltigkeit fördern, die gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit essenziell stärkt«, fordert Fraunhofer-Präsident Prof. Reimund Neugebauer. Für Kanzlerin Merkel ist die zentrale Lehre aus den letzten Monaten die »stärkere strategische Souveränität Europas«. Bestehende Abhängigkeiten zu überdenken, fordert auch Neugebauer. »Das Ziel ist nicht die Autarkie, sondern die souveräne Entscheidungsfreiheit. Und Souveränität ist neben einer klugen Politik von der wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Leistungsfähigkeit einer Gemeinschaft abhängig.«
Der Indikator dafür, ob und wie Organisationen und Gesellschaften kritische Situationen technologisch, sozial und wirtschaftlich souverän meistern, ist ihre Resilienz. »Resiliente Organisationen und Systeme haben gemeinsam, dass sie Wert auf Redundanzen legen, über breit gestreute Ressourcen verfügen, sich selbst organisieren können, auch mit unvorhergesehenen Ereignissen rechnen, sich auf die eigenen Fähigkeiten und Stärken fokussieren und flexibel in ihren Prozessen sind«, fasst Florian Roth, Innovations- und Resilienzforscher am Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung ISI in Karlsruhe zusammen. Dabei kommt es darauf an, nicht einfach wie im Wortsinn (lateinisch: resilire) an einer Widrigkeit »abzuprallen« und in den ursprünglichen Zustand »zurückzuspringen«. Wenn wir die Widerstandsfähigkeit unseres Systems stärken wollen, müssen wir die Dynamik nutzen und den Sprung nach vorne wagen. »Bounce forward« nennt das Roth.
Resilienz ist seit vielen Jahren Forschungsgegenstand der Psychologie und Ingenieurswissenschaften, der Sozial-und Materialwissenschaften, in Ökonomie und Ökologie. Angesichts der Komplexität des Themas kann es helfen, die analytische Vorgehensweise der Ingenieurswissenschaft heranzuziehen. Denn »Resilienz ist kein Zufall – man kann sie strategisch planen«, sagt Alexander Stolz: »Mit dem Ansatz des Resilience Engineering entwickeln wir Maßnahmen und Methoden, um vor, während und nach einer Krise die besten Entscheidungen fällen zu können. Dafür teilen wir ein großes Schadensereignis in fünf Phasen ein, die fließend ineinander übergehen: Prepare, Prevent, Protect, Respond und Recover.«