Auf der Suche nach einem Medikament gegen Corona

Im Projekt iCAIR® entwickelt das Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin ITEM gemeinsam mit Partnern – dem Institute for Glycomics (IfG) der Griffith University in Australien, dem Institut für klinische Biochemie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) – neue, dringend benötigte Wirkstoffe gegen Infektionskrankheiten, die weltweit auf dem Vormarsch sind. Die Entwicklung neuer Antiinfektiva reicht von der Identifizierung therapeutischer Zielstrukturen bis hin zum Wirksamkeitsnachweis, dem sogenannten präklinischen Proof-of-Concept. Im Zuge der Corona-Pandemie wird das Projekt um die Suche nach einem wirksamen Medikament gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 erweitert.

Interview

Prof. Armin Braun und Prof. Mark von Itzstein
© Fraunhofer ITEM, Ralf Mohr
Prof. Armin Braun und Prof. Mark von Itzstein

Wir befragten zwei iCAIR®-Projektleiter, Professor Armin Braun vom Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin ITEM in Hannover und Professor Mark von Itzstein von der Griffith University in Australien, über ihre Forschung und wie sie die Herausforderung, ein wirksames Medikament zu finden, angehen werden.

 

Erste Frage: Wie geht es Ihnen heute? Wie ist das Leben momentan in Australien und in Hannover?

Prof. Mark von Itzstein: Australien ist bei der Minimierung der COVID-19-Erkrankungen und der Auswirkungen von SARS-CoV-2 sehr strategisch vorgegangen. Zwar hat der australische Ansatz einen heftigen sozioökonomischen Effekt gehabt, er war zur Eindämmung der Pandemie mit bislang weniger als 100 Todesfällen (Stand 24.4.2020) jedoch außerordentlich erfolgreich. Das Leben geht weiter und wenngleich es hier allmählich in Richtung Herbst geht, genießen wir zurzeit noch herrlich sonnige Tage.

Prof. Armin Braun: Auch in Hannover ist die Situation noch sehr entspannt. Am Institut haben wir Wege gefunden, unter Einhaltung der neuen Regeln unsere Arbeiten fortzuführen und das funktioniert tatsächlich ziemlich gut. Wir sind voll einsatzbereit und können unsere Arbeit machen. Außerdem haben wir hier herrliches Frühlingswetter mit sehr viel Sonnenschein – also fast ähnliche Bedingungen wie in Australien.
 

Prof. von Itzstein und Prof. Braun, Sie sind beide Projektleiter in dem internationalen Fraunhofer ICON-Projekt iCAIR®, einem Konsortium aus Fraunhofer ITEM, dem australischen Institute for Glycomics, der Medizinischen Hochschule Hannover und dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Was genau ist iCAIR®?

Prof. Mark von Itzstein: iCAIR® ist ein Konsortium, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, neue Medikamente zur Behandlung oder Vermeidung klinisch bedeutsamer Atemwegsinfektionen, die durch Viren, Pilze und Bakterien verursacht werden, zu finden. Das Konsortium setzt die komplementären Kompetenzen aller Partner ein, um mögliche Arzneimittel zu entdecken und bis hin zu präklinischen Studien voranzubringen. Nach Abschluss dieser Studien wird ein Paket präklinischer Daten zu neuen Wirkstoffen verfügbar sein, sodass diese in klinische Prüfungen am Menschen gebracht werden können.

Prof. Armin Braun: Das Interessante an iCAIR® ist die Möglichkeit, hochgradig komplementäre Kompetenzen zusammenzuführen. Während die Griffith University, das HZI und die MHH über fundiertes Know-how in der Wirkstoffentdeckung und Arzneimittelentwicklung verfügen, bringt Fraunhofer seine Expertise in der späten präklinischen Entwicklung einschließlich regulatorischer Toxikologie nach GLP ein. iCAIR® zielt darauf ab, die Entwicklung antiinfektiver Medikamente zu beschleunigen und dadurch das sogenannte »Valley of Death«, also die in vielen Fällen klaffende Lücke zwischen der Entdeckung eines antiinfektiven Medikaments und seiner klinischen Anwendung, zu überbrücken.
 

Welche Faktoren machen Ihre Zusammenarbeit so erfolgreich?

Prof. Mark von Itzstein: Das Konsortium ist hauptsächlich aufgrund der beiden folgenden Faktoren sehr erfolgreich: 1. eine Partnerschaft, die auf einer langjährigen Forschungskooperation basiert, und 2. ein Bündel von Kompetenzen, die sich beim Hit-to-Lead in höchstem Maße ergänzen.

Prof. Armin Braun: Genau, das Erfolgsrezept besteht letztlich darin, all die Kompetenzen zusammenzuführen, die nötig sind, um ein Arzneimittel von der Target-Identifizierung über den Hit-to-Lead bis zum nichtklinischen Proof-of-Concept, und zwar sowohl im Hinblick auf Wirksamkeit als auch auf Sicherheit, zu bringen.
 

Seit fast drei Jahren arbeiten Sie nun schon zusammen in Ihrem Kampf gegen die Erreger von Atemwegsinfektionen, darunter auch humane Influenza- und Parainfluenzaviren. Sind bei den von Ihnen erarbeiteten Ergebnissen oder Strategien welche dabei, die man auf den Kampf gegen das Coronavirus übertragen könnte? Wie unterscheidet sich das Coronavirus von anderen Viren? Erfordert das Coronavirus andere Ansätze?

Prof. Mark von Itzstein: Zweifelsohne können wir aus den Erfahrungen lernen, die wir im Zusammenhang mit anderen Atemwegsviren wie dem Influenza- oder Parainfluenzavirus gesammelt haben. Diese Viren unterscheiden sich zwar alle voneinander, aber unser Ansatz zur Wirkstoffentdeckung ist auf alle anwendbar. Dank unseres »Designer«-Ansatzes können wir im Lebenszyklus jedes beliebigen Virus spezielle und essenzielle Proteine als Targets bestimmen und diese mit unserem auf Strukturinformationen basierenden Ansatz ins Visier nehmen. Beim Influenzavirus beispielsweise ist unser Target das Protein Neuraminidase, das sich auf der Oberfläche des Virus befindet und für die Freisetzung von Virus aus der infizierten Zelle ganz wesentlich ist, wohingegen wir beim Coronavirus als Target zum Beispiel ein anderes Oberflächenprotein des Virus nutzen, nämlich das sogenannte Spike-Protein.

Prof. Armin Braun: Einen wesentlichen Schritt nach vorn haben wir gemacht, indem wir humane Präzisionslungenschnitte, kurz PCLS, als Ex-vivo-Modell für Vireninfektionen entwickelt haben. Wir haben dieses Modell jetzt für Influenza-, Parainfluenza-, Rhinoviren und RSV etabliert und es hat sich als Modell mit ausgezeichneter Prädiktivität für die Wirksamkeit und Sicherheit antiviraler Medikamente oder Wirkstoffe erwiesen. Dieses Wissen wenden wir nun auch in der Coronavirus-Forschung an. Erste Experimente haben gezeigt, dass dieser Ansatz auch in der Forschung zu SARS-CoV-2 anwendbar ist.  
 

Das Coronavirus stellt für die Gesundheit der Forschenden eine unmittelbare Bedrohung dar. Sind Sie an der Griffith University entsprechend ausgestattet, um mit Coronaviren zu arbeiten? Und wie sieht das am Fraunhofer ITEM aus?

Prof. Mark von Itzstein: Am Institute for Glycomics der Griffith University sind wir mit modernen S3-Labors ausgestattet, in denen wir sowohl zellbasierte als auch tierexperimentelle Studien zum Coronavirus durchführen können.

Prof. Armin Braun: In Hannover kooperieren wir bei Arbeiten mit Viren eng mit dem TWINCORE und der MHH. Arbeiten im Rahmen von iCAIR® werden in den dortigen S3-Labors ausgeführt, die von uns aus gleich gegenüber auf der anderen Straßenseite liegen. Thomas Pietschmann und Ulrich Kalinke vom TWINCORE, ein von HZI und MHH gemeinsam betriebenes Forschungsinstitut, sind vor Kurzem in das iCAIR®-Konsortium mit eingestiegen und stellen aufgrund ihrer außerordentlichen immunologischen und virologischen Expertise eine perfekte Ergänzung für die Forschung zum Coronavirus dar.
 

Ein Ansatz, den Sie verfolgen, ist die Wiederverwertung existierender Medikamente für neue Anwendungen, das sogenannte »Drug Repurposing«. Könnten Sie uns das genauer erklären? Und welche Kandidaten haben Sie dafür ins Auge gefasst?

Prof. Mark von Itzstein: Das Institute for Glycomics hat Zugriff auf über 3000 existierende Arzneimittel, die wir gegen COVID-19 prüfen werden, und zwar sowohl in primären als auch in Ex-vivo-Zellmodellen auf der Basis menschlicher Atemwegszellen. Dies bezeichnet man als Drug Repurposing, das heißt man schaut, ob es bereits Medikamente gibt, die gegen andere Erkrankungen eingesetzt werden und die möglicherweise auch gegen COVID-19 wirksam sein könnten.

Prof. Armin Braun: In diesem Projekt werden wir Substanzen verwenden, die von der Griffith University, dem HZI und dem Fraunhofer IME – Screening Port mit verschiedenen Hochdurchsatz-Screening-Ansätzen getestet wurden. Die vielversprechendsten Kandidaten werden ausgewählt und dann weiter entwickelt. Interessant ist an diesem Vorgehen, dass es die Möglichkeit einer frühzeitigen Validierung von Kandidaten bietet, wenn diese durch verschiedene Screening-Verfahren selektiert werden.
 

Wodurch zeichnet sich ein vielversprechender Kandidat aus? Aktuell sind ja bereits zahlreiche Arzneimittel als Kandidaten im Gespräch.

Prof. Mark von Itzstein: Ein vielversprechender Kandidat ist ein bereits existierendes Arzneimittel, das gegen COVID-19 gut wirksam und dabei sicher ist.

Prof. Armin Braun: Ja, das wäre perfekt, wenn man einfach ein bereits zugelassenes Medikament verwenden könnte. Aber die Wirklichkeit wird wohl anders aussehen: Selbst wenn ein existierendes Medikament gegen SARS-CoV-2 wirksam sein sollte, müsste es für diese spezielle Anwendung noch optimiert werden. Es könnte zum Beispiel inhalativ verabreicht werden, um in den Atemwegen, also dort, wo das Infektionsgeschehen im Wesentlichen stattfindet, ausreichend hohe lokale Konzentrationen zu erreichen.
 

Viele Pharmaunternehmen screenen zurzeit ihre eigenen Moleküldatenbanken nach geeigneten Arzneimittelkandidaten. Inwiefern birgt Ihr Ansatz gegenüber diesem Vorgehen einen Vorteil?

Prof. Mark von Itzstein: Unser Vorteil liegt vor allem darin, dass wir für das Screenen potenzieller Arzneimittel hochgradig relevante Zellmodelle auf der Basis menschlicher Atemwegszellen verwenden. Darüber hinaus nutzen wir einen erstklassigen Ansatz, der auf Strukturinformationen basiert und die Entdeckung weiterer Arzneimittel ermöglichen wird.
 

Angenommen ich wäre CEO eines großen Pharmaunternehmens. Welche Art Unterstützung oder Beitrag würden Sie sich von mir wünschen? Oder anders ausgedrückt: Wie kann ich zu iCAIR® beitragen und was können Sie mir bieten?

Prof. Mark von Itzstein: Ein umfassendes Screening existierender Arzneimittel und die Verwendung eines Ansatzes auf der Basis von Strukturinformationen zur Wirkstoffentdeckung kosten sehr viel Geld. Wir haben großes Interesse daran, mit Pharmaunternehmen zusammenzuarbeiten. Eine iCAIR®-Partnerschaft in Form von größeren finanziellen Zuwendungen oder auch Sachleistungen wie beispielsweise die Durchführung kostspieliger Transkriptom-Analysen würde es uns ermöglichen, unsere Arbeiten signifikant zu beschleunigen.
 

Was die iCAIR®-Forschung angeht, wenn Sie mal optimistisch planen: Welche sichtbaren Ergebnisse wird es aus heutiger Sicht in drei bis sechs Monaten geben?

Prof. Mark von Itzstein: In drei bis sechs Monaten würde ich vermuten, dass wir ein großes Stück weiter sind bei der Identifizierung geeigneter Medikamente, die dann in die iCAIR®-Pipeline fließen könnten. Nach sechs bis neun Monaten wären dann vermutlich einige der ersten gefundenen Kandidaten bereit für erweiterte präklinische Studien. Mit den Ergebnissen aus diesen Studien wäre die Grundlage geschaffen, erste klinische Studien im Menschen beginnen zu können.
 

Prof. von Itzstein, Sie waren ja an der Entwicklung des Influenza-Medikaments Relenza beteiligt. Wenn Sie die Entwicklung eines Arzneimittels damals und heute vergleichen, was hat sich seitdem verändert, was hat sich verbessert und wo müssen wir noch besser werden?

Prof. Mark von Itzstein: Vieles hat sich verändert in der Zwischenzeit. Die Technologie für die Wirkstoffentdeckung auf der Basis von Strukturinformationen ist wesentlich besser geworden, genauso wie die Screening-Technologie und unsere Fähigkeit, schnell zu reagieren. Und die Wissenschaft ist internationaler geworden. Im letzten Jahrhundert hätte man ein Konsortium wie iCAIR® wohl niemals für möglich gehalten. Die Regierungen haben die Zulassungsverfahren deutlich verbessert und es gibt jetzt Möglichkeiten für eine beschleunigte Zulassung von Arzneimitteln. Die Welt ist aufgrund unserer Möglichkeiten durch sozialen Medien und Netzwerke kleiner geworden, was zu einem schnellen Austausch von Wissen führt.
 

Wenn wir an eine nächste zoonotische Pandemie denken, wie können wir uns darauf besser vorbereiten? Wie müssen wir Forschungs- und Entwicklungslabors, -institute und -plattformen ausstatten, damit das richtige Medikament noch schneller gefunden werden kann?

Prof. Mark von Itzstein: Gerade Konsortien wie iCAIR® sind ein realer Schritt, um uns für eine schnellere Reaktion auf zoonotische Pandemien zu wappnen. Wir müssen in der Lage sein, neuen Krankheitserregern mit vereinten Ressourcen und gebündeltem Wissen zu begegnen.

 Prof. Armin Braun: Ich glaube, der Schlüssel zur Bekämpfung solcher zoonotischer Pandemien liegt darin, dass man sich vorbereitet. Niemand kann heute sagen, wann die nächste zoonotische Infektion auftreten wird und was für eine Art von Virus das sein wird, aber wir können sicher sein, dass sie kommt. Daher muss die Infrastruktur zur Durchführung entsprechender Forschung vorhanden sein, das Personal muss dafür geschult und Kooperationsstrukturen müssen errichtet werden. iCAIR® zielt darauf ab, all diese wesentlichen Voraussetzungen für die Bekämpfung von Infektionen zu erfüllen.
 

Interview: Dr. Christoph Neubert (ICON Programm-Manager)