A ls ich vor 30 Jahren meine Karrie- re begann, stammte jedes zweite neue Medikament aus Europa. Heute ist es nur noch jedes fünfte. In den letzten zwei Jahrzehnten ist der Anteil Europas an den weltweiten Investitionen in pharmazeutische Forschung und Entwick- lung um ein Viertel zurückgegangen – vor allem zugunsten der USA und Chinas. In einer Zeit wegweisender Innovationen und eines starken globalen Wettbewerbs um Spitzenforschung stellt sich nicht die Frage, ob die Medizin Fortschritte machen wird, son- dern wo. Wollen wir eine Europäische Union, die von den Innovationen anderer Weltregio- nen abhängig ist? Oder eine EU, die Innova- tionen in ihrer Bedeutung anerkennt und ent- sprechend honoriert? Letzteres würde Patien- tinnen und Patienten zugutekommen, für In- vestitionen sorgen, Arbeitsplätze schaffen und das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Europa muss seine Wettbewerbsfähigkeit stärken und Herausforderungen im Gesund- heitssektor adressieren. Entwicklungen in den Bereichen Souveränität, nationale Sicherheit und Resilienz der Lieferketten geben großen Anlass zur Sorge. Handelskonflikte schaffen ein Klima der Unsicherheit und veranlassen europäische Pharmaunternehmen dazu, mas- sive Investitionen in den USA anzukündigen. Darin liegt jedoch eine Chance. Mit dem größten Beitrag zum EU-Handelsüberschuss und 900 000 Arbeitsplätzen in Europa wird die Pharmaindustrie endlich von der Politik als strategische Schlüsselbranche wahrgenom- men. Wir müssen diesen Worten nun Taten folgen lassen. Die nächste Gelegenheit dazu bietet die Überarbeitung der allgemeinen Arz- neimittelgesetzgebung (General Pharmaceu- tical Legislation, GPL). Wir brauchen ein Europa, das attraktiv ist für Innovatoren und Investoren. Das Gesetzge- bungsverfahren für die GPL, das die Entwick- lung, Zulassung und Bereitstellung von Arz- neimitteln in Europa auf Jahrzehnte bestim- men wird, befindet sich auf der Zielgeraden. Obwohl geistiges Eigentum auf erstklassigen, kalkulierbaren Schutz angewiesen ist, sehen die Vorschläge eine Lockerung der derzeit gel- tenden Datenschutzvorschriften vor. Bei Bayer werden Entscheidungen über For- schungs-, Entwicklungs- und Produktions- standorte anhand des Zusammenspiels ver- schiedener Faktoren getroffen, um optimale »Europa tut sich schwer damit, aus Durchbrüchen in der Forschung marktfähige Produkte zu entwickeln.« Stefan Oelrich vertritt seit Juni 2025 als Präsi- dent der European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA) die in Europa tätige biopharma- zeutische Industrie. ist seit 1. November 2018 Mitglied des Vorstands der Bayer AG und Leiter der Division Pharmaceuticals. leitete sieben Jahre beim Pharma- und Gesundheitsun- ternehmen Sanofi Organisati- onseinheiten in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Anschließend baute er das Diabetes- und Herz-Kreislauf- Geschäft von Sanofi auf. 2016 wurde Stefan Oelrich zum Exe- cutive Vice President Diabetes & Cardiovascular und Mitglied des Executive Committee von Sanofi ernannt. trat 1989 in die Bayer AG ein und übernahm dort Füh- rungspositionen von zuneh- mend strategischer Bedeu- tung in Lateinamerika (Argen- tinien, Uruguay), Europa (Frankreich, Belgien) und in den Vereinigten Staaten. wurde am 1. Juni 1968 in Wil- helmshaven geboren. Nach dem Abitur begann er eine Ausbildung zum Wirtschafts- assistenten bei der Bayer AG und legte 1992 seine Prüfung zum staatlich geprüften Wirt- schaftsassistenten ab. 2 | 25 Bedingungen für die Bereitstellung neuer Me- dikamente zu schaffen. Es ist zwingend erfor- derlich, dass Europa im Rahmen der GPL-Ge- setzgebung sein geistiges Eigentum stärkt, um im Wettbewerb zu bestehen. Wir brauchen ein Europa, das den Transfer von Ideen in Anwendungen beschleunigt. Europa verfügt über weltweit angesehene Hochschulen und hoch qualifizierte Fachkräf- te. Es tut sich jedoch schwer damit, aus Durch- brüchen in der Forschung marktfähige Pro- dukte zu entwickeln. Abhilfe schaffen könnte die Förderung sogenannter Life Science Hubs (wie in San Francisco oder Boston), in denen sich öffentliche wie private Akteure entfalten können. Wichtig ist zudem, dass wir unsere Start-ups stärken, damit sich diese nicht im Ausland nach Investoren umschauen müs- sen oder aufgeben, bevor sie etwas bewirken. Wenn Europa im Bereich der innovativen Me- dizin eine treibende Kraft bleiben will, müs- sen wir in allen Entwicklungsstadien bessere Finanzierungsmöglichkeiten schaffen. Wir brauchen ein Europa, in dem die Men- schen schnell und gleichberechtigt Zugang zu Arzneimitteln erhalten. Es ist nicht hinnehm- bar, dass kaum die Hälfte aller zugelassenen innovativen Arzneimittel innerhalb der EU erhältlich ist. Und dass es von der Zulassung bis zur Markteinführung im Schnitt 578 Tage dauert. Wirtschaft, europäische Institutionen und Mitgliedsstaaten sollten sich umgehend zusammensetzen, um harmonisierte EU-Me- chanismen und nationale Zugangsstrategien zu schaffen, bei denen Innovationen in ihrer Bedeutung anerkannt und honoriert werden sowie sichergestellt ist, dass Medikamente für alle Menschen in Europa zugänglich sind. Wir brauchen ein Europa, das Gesundheitsaus- gaben als das anerkennt, was sie sind: Inves- titionen in unsere gemeinsame Zukunft. Die Gesundheitsbranche trägt zur Steigerung der Lebenserwartung und -qualität bei und fördert Wohlstand, Resilienz und Sicherheit. Doch in Europa sehen Politik und Gesellschaft in der Entwicklung innovativer Arzneimittel oft nur Kosten und keine Investitionen in Gesundheit und Wirtschaft. Diese Haltung muss sich än- dern. Nur so können wir unsere Position bei der Erforschung, Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln behaupten. Ich bin zuver- sichtlich, dass Europa dies gelingen wird. 27 l G A r e y a B / r e g u K n e f f e t S : o t o F