1 | 25 »Bis man das Mittel ersten Probandinnen und Probanden verabreichen kann, vergehen etwa fünf bis sieben Jahre. Dabei sind die Ausfallraten wahnsinnig hoch.« Prof. Carsten Claussen, Fraunhofer ITMP 56 Proteininteraktion und trainieren KI-Modelle, die dabei helfen, ideale Wirkstoffstrukturen vorher- zusagen: »So lässt sich die Gruppe der Substanzen, die infrage kommen, viel genauer eingrenzen. Unsere Suche wird schneller, konkreter, intelli- genter. Die Chance auf einen Hit verdoppelt sich.« Ihr jüngster Erfolg: Sie entdeckten eine Ver- bindung, die gegen Epilepsie bei Kindern wirksam ist. Fündig wurden sie in einer sogenannten Re- purposing-Bibliothek – einer Sammlung von Sub- stanzen, die bereits für eine bestimmte medizi- nische Indikation zugelassen sind. Claussen: »Der Gedanke ist ja naheliegend, dass ein Arzneimittel auch an anderen Stellen im Körper nützliche Ef- fekte zeigen kann.« Der Vorteil: Entwicklungszeit und -kosten reduzieren sich, weil viele Tests nicht mehr notwendig sind und einige Entwicklungs- phasen übersprungen werden können. Auch las- sen sich Risiken ausschließen, die bis dahin un- bekannte Verbindungen beinhalten. Von 10 000 Substanzen schafft es nur eine Denn nicht jeder Hit ist auch als Wirkstoff geeig- net: Die Substanz könnte toxisch sein, im Blut- serum schnell zerfallen oder gefährliche Neben- wirkungen hervorrufen. Ermittelt wird das durch umfangreiche Tests an Zellkulturen, im Tier und später, wenn alles glattläuft, auch im Menschen. Claussen: »Bis man das Mittel ersten Probandin- nen und Probanden verabreichen kann, vergehen etwa fünf bis sieben Jahre. Dabei sind die Ausfall- raten wahnsinnig hoch.« Von 10 000 Substanzen mit Wirkpotenzial wer- den, so der Verband Forschender Arzneimittel- hersteller vfa, rund neun im Menschen getestet, nur eine erreicht tatsächlich später den Markt. So ist es nicht erstaunlich, dass die Entwicklung ei- nes neuen Medikaments teuer ist und lange dau- ert: Die Gesamtkosten liegen heute im Durchschnitt bei 2,8 Milliarden US-Dollar. Von der ersten Idee bis zur Zulassung vergehen zwölf Jahre – der vor- läufige Höhepunkt eines Trends, der seit den 1950er-Jahren ungebrochen anhält. Ein wichtiger Grund: Pharmaka werden im- mer komplexer. Standen anfangs Krankheiten mit einfachen Wirkmechanismen oder weit verbrei- tete Symptome wie Kopfschmerzen oder Sodbren- nen als Entwicklungsziele im Vordergrund, sind es heute Krebs oder rheumatische Systemerkran- kungen. Diese betreffen zahlreiche biologische Prozesse im Körper und sind nur mit Kombina- tionstherapien mehrerer Wirkstoffe effektiv be- handelbar. Die Krankheitsmechanismen sind viel- schichtig und oft nicht vollständig verstanden, was die Ableitung von Targets erschwert. »Auch hier kann uns KI sehr helfen«, ist Claussen über- zeugt. Denn sie macht es möglich, zahlreiche Pa- rameter, die die Krankheit beeinflussen, zu be- rücksichtigen, miteinander zu kombinieren und so wesentliche Targets zu identifizieren. Ist ein vielversprechender Wirkstoff-Kandidat gefunden, wird er auf Wirksamkeit und Sicherheit geprüft. Der Aufwand und die langen Genehmi- gungszeiten für Tierversuche lassen sich heute in vielen Fällen einsparen. Dr. Julia Neubauer, Ge- schäftsführerin am Fraunhofer-Projektzentrum für Stammzellprozesstechnik, und ihr Kollege Prof. Florian Groeber-Becker, Leiter des Fraunho- fer-Translationszentrums für Regenerative The- rapien, arbeiten gemeinsam in Würzburg an in- novativen zellbasierten Gewebemodellen für die Wirkstoff-Testung. Dafür nutzen sie, neben pri- mären Zellen aus verschiedenen Geweben wie der Haut oder dem Auge, induzierte pluripotente Stammzellen oder kurz iPS-Zellen – künstlich er- zeugte Stammzellen, aus denen sich unterschied- liche Zelltypen züchten lassen. Diese haben unter anderem den Vorteil, dass sie einheitlich und re- produzierbar sind, während primäre Zellen vari- ieren können. Außerdem sind einige primäre Zel- len wie Herzmuskelzellen oder neuronale Zellen nur schwer zu isolieren und zu kultivieren. Ein weiterer großer Pluspunkt dieser Gewebe- modelle ist, dass sie spezifische Krankheitszu- stände oder -mechanismen nachbilden können. »Ein Versuchstier hat ja zunächst keine Krankheit, das heißt, Sie müssen die Pathologie erst mal in- duzieren, bevor Sie Tests durchführen können«, verdeutlicht Groeber-Becker. Demgegenüber sind Gewebemodelle nicht nur ethisch unproblema- tisch – sie liefern auch wesentlich bessere Ergeb- nisse. Neubauer: »Ich habe quasi den Menschen mit der Krankheit in die Petrischale gebracht.« Modell-Herzen kontrahieren wie richtige Drei bis sechs Wochen dauert es, bis die huma- nen Testmodelle einsatzfähig sind. »Bei den Kar- diomyozyten, also den Herzmuskelzellen, haben wir bereits nach sieben Tagen schlagende kleine