Viel mehr als nur Fassade

Energieeffizienz und Raumklima

Webspecial Fraunhofer-Magazin 2.2023

Das Potenzial der vertikalen Fläche: Fassaden können mehr sein als nur Wetterschutz und optisches Highlight. In Zeiten des Klimawandels warten neue Aufgaben auf die Gebäudehülle.

Auf den ersten Blick könnte das dreigeschossige Haus nahe Holzkirchen und in Hörweite der A8 auch ein Bürogebäude sein. Dann fallen die unterschiedlichen Fassadenelemente an dem Gebäude ins Auge: hier bodentiefe Verglasung, da Außenrollo, dort eine innen angebrachte Sonnenblende. Im dritten Stock ist außen an der Fassade zwischen zwei Fenstern ein schwarzes Photovoltaik-Modul befestigt. Wäre das nicht einheitlicher gegangen? Die scheinbare Unentschiedenheit bei der Außengestaltung hat System. Das Mini-Hochhaus ist kein gewöhnliches Gebäude, sondern die Versuchseinrichtung für energetische und raumklimatische Untersuchungen – kurz VERU – des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik IBP in der oberbayerischen Gemeinde Valley. Und die Wandelbarkeit der Gebäudehülle ist eine der wichtigsten Besonderheiten von VERU: Die einzelnen Segmente zwischen der Stahlbetonkonstruktion lassen sich zu Versuchszwecken schnell und einfach austauschen gegen neue Fassadenlösungen, deren Funktion und Effizienz dann im Auftrag der Forschung oder Industrie geprüft werden.

 

Die Versuchseinrichtung für energetische und raumklimatische Untersuchungen (VERU) des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik IBP in Holzkirchen, Bayern.

Fassade mit Wirkung – nach innen wie nach außen

Herr des Testhauses ist Herbert Sinnesbichler, Gruppenleiter Evaluierung und Demonstration am Fraunhofer IBP. Als Diplomand zum Fraunhofer IBP gekommen, führt der Technische Physiker seit nunmehr fast 20 Jahren mit einem interdisziplinär besetzten Team Versuche an Sonnenschutz- und Gebäudehüllensystemen an der VERU durch. Für Sinnesbichler ist die Fassade weit mehr als eine gestalterische Hülle: »Sie ist die Schnittstelle eines Gebäudes zur Außenwelt und damit von großer Bedeutung sowohl für den Energiebedarf der Immobilie als auch für das Wohlfühlklima innerhalb der Räume.« Wer die Fassade auf ihre ästhetische Funktion reduziere, versichert der Fachmann, unterschätze ihr bauphysikalisches und energetisches Potenzial.

Wind und Wetter abhalten, Licht einlassen, das Gebäude über alle vier Jahreszeiten hinweg bestmöglich temperieren, idealerweise zusätzlich Energie generieren (Stichwort bauwerkintegrierte Photovoltaik, BIPV) und dabei auch noch gut aussehen: Die Fassade der Zukunft muss eine Alleskönnerin sein. Das Fraunhofer UMSICHT hat der Jobbeschreibung für Fassaden eine weitere Facette gegeben. Seit mehr als acht Jahren arbeiten Forschende dort an vertikalen Begrünungssystemen, durch die Fassaden aktiv zum Stadtklima beitragen können. »Gemeinsam mit Partnerunternehmen haben wir spezielle Elemente entwickelt, die wir für den Bau von bodenungebundenen begrünten Wänden nutzen«, erklärt Holger Wack, stellvertretender Abteilungsleiter Produktentwicklung am Fraunhofer UMSICHT. Vertikale Begrünung mit Gräsern, Blumen, Kräutern oder sogar Nutzpflanzen verbessert die Luftqualität und reduziert CO2, mindert Lärm und bindet Feinstaub. Sie wirkt aber auch Klimawandel-Phänomenen entgegen wie Starkregen, Hitze, Trockenheit oder dem Verlust von Biodiversität.

 

 Beim Test  der EE-Modulfassade macht  Herbert  Sinnesbichler  vom Fraunhofer  IBP mit der  Nebelmaschine  auch Luftströme  sichtbar.
© Fraunhofer IBP / Axel Griesch
Zieht‘s irgendwo? Beim Test der EE-Modulfassade macht Herbert Sinnesbichler vom Fraunhofer IBP mit der Nebelmaschine auch Luftströme sichtbar.

Vom Schmetterling inspiriert

Tatsächlich grün werden können die BIPV-Fassadenmodule, die seit wenigen Monaten das Zentrum für Höchsteffiziente Solarzellen am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE zieren. Das Pilotprojekt soll nicht nur das Institut mit rund elf Megawattstunden Solarstrom pro Jahr versorgen, sondern auch noch grüne Akzente setzen. Möglich macht das die am Fraunhofer ISE entwickelte MorphoColor®-Beschichtung, die Solarmodulen Farbe verleiht und den noch mindestens 90 Prozent der Moduleffizienz erhält. Für das Prinzip haben sich die Forschenden von Mutter Natur inspirieren lassen. Der Blaue Morphofalter hat nicht einfach blau pigmentierte Flügel. Der leuchtende Farbeindruck entsteht durch eine Vielzahl hauchdünner, ziegelartig übereinander geschichteter Schuppen. Dank dieser besonderen Brechung des ein - fallenden Lichts werden lediglich blaue Lichtwellen zurückgeworfen. Auch die Beschichtung der Morpho-Color®-Panele reflektiert nur eine bestimmte Farbe des Lichtspektrums, während das restliche Sonnenlicht ungestört die Schicht durchdringen und energetisch verwendet werden kann. Die Mischung aus Ästhetik und Funktionalität hat das Potenzial, auch jene zu überzeugen, die noch mit dem Prinzip der BIPV hadern. Gerade bei vielen ohnehin großflächig verglasten Gebäudeflächen ließe sich PV relativ einfach integrieren. Das technische Potenzial der BIPV in Fassaden (Wohn- und Nichtwohngebäuden) in Deutschland schätzt das Fraunhofer ISE auf rund 440 Gigawatt in der Spitze. Damit liegt es nur knapp hinter dem BIPV-Flächenpotenzial von Dächern (560 GWp). Farben können helfen, dieses Potenzial zu heben, Glasfassaden haben allerdings – auch wenn sie Solarenergie liefern – ein Problem: Sie lassen mit dem Licht auch Wärme ein, was zumindest im Sommer zur Herausforderung wird.

 

Grüne PV-Module an der Gebäudefassade des Fraunhofer ISE in Freiburg.
© Fraunhofer ISE
Grün im doppelten Sinn: Die PV-Module am Fraunhofer ISE produzieren Solarenergie – und sehen dank MorphoColor®-Beschichtung auch noch gut aus dabei.

Hier könnte ein PV-Element Abhilfe schaffen, das derzeit noch die Südfront des VERU vom Fraunhofer IBP ziert. Es ist Teil eines Fassadenmoduls zur Gebäudeklimatisierung und wurde vom Fraunhofer IBP und dem Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik IEE in Kooperation mit Partnern aus der Wirtschaft entwickelt. Über das Photovoltaik-Element wird ausreichend regenerative Energie erzeugt, um den dahinter liegenden Büroraum nicht nur zu lüften, sondern dank einer Kleinstwärmepumpe auch zu heizen oder wahlweise zu kühlen. Eine Alles-inklusive-Lösung also: Die gesamte Heiz-, Kühl- und Lüftungstechnik für den dahinter liegenden Büroraum ist in diesem Fassadenmodul integriert. Benötigt wird lediglich ein Stromanschluss für die Zeiten, in denen die Solarenergie mal nicht ausreicht, um die Komponenten vollständig mit Strom zu versorgen. Da alle wichtigen Bauteile bereits im Modul stecken, lassen sich gerade Bestandsimmobilien damit schnell und kostengünstig energetisch sanieren, sind die Forscherinnen und Forscher überzeugt.

 Michael Eberl rückt die  Sensoren am DressMAN zurecht. Über  die Messpuppe wird der thermische  Gesamtkomfort im Raum erfasst.
© Fraunhofer IBP / Axel Griesch
Probesitzen: Michael Eberl rückt die Sensoren am DressMAN zurecht. Über die Messpuppe wird der thermische Gesamtkomfort im Raum erfasst.

Aber funktioniert die sogenannte ErneuerbareEnergien(EE)-Modulfassade auch so wie gedacht? Fraunhofer IBP-Wissenschaftler Michael Eberl hat die Fassade des VERU-Versuchsraums mit einem Demonstrator und den Raum selbst mit jeder Menge Messtechnik ausgestattet, um die Funktionalität des Anlagenkonzeptes zu überprüfen sowie die Energieströme und Wohlfühl-Parameter wie Lufttemperatur, Luftfeuchte und Luftgeschwindigkeit zu erfassen. Zwei schwarze Metallröhren in der Zimmermitte in Kombination mit Befeuchtern bilden die Wärme- und Feuchteeinträge von Büromenschen ab, die eines Tages hinter einer solchen EE-Modulfassade arbeiten werden. Auf diese Art werden über das sogenannte funktionale Mockup das Modul selbst sowie das Zusammenspiel aller Komponenten im Raum getestet und optimiert. Ohne den Testergebnissen vorweggreifen zu wollen: Michael Eberl ist bislang ziemlich zufrieden.

In der Regel laufen solche Versuchsanordnungen mindestens ein Dreivierteljahr, um möglichst alle jahreszeitlichen Veränderungen mitzunehmen. Der VERU-Standort in Valley sei dafür optimal wegen seiner extremen Wetterverhältnisse, betont Sinnesbichler: Ob Sonne, Wind, Regen, Frost und Schnee – alles kommt in der Voralpenlandschaft im Laufe eines Jahres ausreichend vor. Jetzt, im Vorfrühling, hüllen Schnee und Nebel die VERU noch in winterliches Weißgrau, es ist bitterkalt vor dem Versuchsgebäude und auch im Treppenhaus. Im Testraum des Demonstrators selbst hingegen ist es mollig warm – ein weiteres gutes Zeichen.

Bei Großbauprojekten fließen rund 15 bis 25 Prozent der Baukosten in die Fassadengestaltung. Gerade angesichts dieser Größenordnung ist die Vorab-Testung neuer Konstruktionen und Konzepte über funktionale Mockups eine sinnvolle Investition, um eventuelle Schwachstellen frühzeitig zu detektieren und sich dadurch teure Nachbesserungen am fertigen Objekt zu sparen. »Wer sich nur auf das Reißbrett und digitale Simulationen verlässt, nimmt ein hohes Risiko in Kauf«, sagt Diplom-Ingenieur Sinnesbichler. Wobei auch an der VERU im Zusammenhang mit Untersuchungen oftmals Simulationswerkzeuge eingesetzt werden. Die hierzu verwendeten Modelle sind jedoch in der Regel auf Basis von vorab real erhobenen Messwerten überprüft und validiert.
 

Wie geht‘s dem Menschen hinter der Fassade?

VERU ist die Haus gewordene Flexibilität: Die Messzellen sind so variabel, dass vom Einzel- über das Großraumbüro bis hin zum Konferenzzimmer unterschiedliche bauliche Realitäten problemlos durchgespielt werden können. Im zweiten Obergeschoss befinden sich außerdem zwei identische Versuchsräume – sogenannte energetische Zwillingsräume –, die sogar Vergleichsmessungen ermöglichen. Mitunter werden auch Probanden zu den Tests geladen, um über die objektiven Messdaten hinaus den subjektiven Eindruck des Raumklimas zu erfassen. Doch das ist in der Regel höchst arbeits- und zeitaufwendig: »Um repräsentative Daten zu erhalten, muss eine wirklich große Menge an Versuchspersonen geladen werden«, erklärt Sinnesbichler. Lieber setzt das Team vom Fraunhofer IBP deshalb auf den DressMAN: eine lebensgroße Klima-Messpuppe, die von den in blauen Sneakers steckenden Füßen bis hin zur Synthetik-Stirn mit Sensoren ausgerüstet ist. Vorsichtig biegt Michael Eberl die Gliedmaße des Dummy zurecht, bis der wie ein Mensch am Schreibtisch Platz genommen hat. Alle Messdaten, die der DressMAN – den es natürlich auch in einer weiblichen Ausführung gibt – im Dienst der Forschung liefert, fließen in einen Algorithmus ein, mit dessen Hilfe dann der Wert des thermischen Gesamtkomforts im Raum berechnet wird. Dass der nicht nur beim DressMAN, sondern später auch beim Büromenschen im grünen Bereich liegt, ist für Unternehmen essenziell: Mitarbeitende, die im Job schwitzen, frieren oder über Zugluft klagen, sind weniger leistungsfähig und machen mehr Fehler als solche, die ein gutes Arbeitsklima auch im konkreten Sinn genießen. Wie sich ein Raum mit einer bestimmten Fassadenlösung anfühlt, wie es sich darin sitzt und arbeitet, »muss man einfach sehen und spüren«, findet Herbert Sinnesbichler. Wäre der DressMAN am Schreibtisch daneben dazu fähig, würde er jetzt vermutlich nicken.

Weitere Informationen

 

Gebäudedämmung – nachhaltig und kostengünstig mit Aerogelen

 

Prof. Dr. Gunnar Grün | Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP / 14.4.2023

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