Jeder neunte Mensch auf der Welt ist unterernährt oder hungert. An die Betroffenheit haben wir uns gewöhnt, Frau Prof. Büttner. Gibt es neue Lösungsansätze?
Die Herausforderung reicht ja noch viel weiter. Ein viel größerer Teil der Menschen ist fehlernährt – und das massiv gerade auch in den reichen Industrienationen: Mineralstoff- und Vitaminmangel, die Überernährung eskaliert.
Machen wir damit das Problem nicht so groß, dass es unlösbar wird?
Was uns verloren gegangen ist, ist der Blick für das Wichtige. Darauf wollen wir in der Fraunhofer-Allianz für Ernährungswirtschaft fokussieren. Wir erleben ein Resilienz- und Souveränitätsproblem: in der Energieversorgung, im Gesundheitsbereich – und eben auch in der Lebensmittelversorgung. Was wir vor allem neben der reinen Technologiesicht brauchen, ist eine Lage- und Szenariobetrachtung.
Und welche Szenarien zur Lösung sehen Sie?
Regionalisierung ist ein großes Thema. Wir müssen zudem ganz neue Anbauformen erschließen: Vertical Farming, Indoor-Farming sind technische Fortschritte, die uns mit Sicherheit um ein Wesentliches weiterbringen werden, gleichzeitig sind degradierende Böden und Wasser ein globales Problem, das für jede Form bioökonomischer Wertschöpfung zentral steht. Was sich dabei ganz schnell ändern muss, ist unser Umgang mit den Ressourcen. Wir denken gerade in großem Maßstab darüber nach, wie Rest- und Nebenströme verwertet, veredelt werden können und hierzulande, aber auch weltweit in den Handel und vor allem zum Verzehr kommen können
Restströme klingt so technisch. Worum geht es konkret?
Um vieles. Obst und Gemüse sind heute zahlreichen Normen und Regularien unterworfen. Und was nicht der Norm entspricht, kann aus dem Prozess verloren gehen. Mit Partnern entwickeln wir Technologien, mit denen auch kleinere Unternehmensformen wie genossenschaftliche Betriebe solche Lebensmittel zu Smoothies oder zu Crunchy-Produkten verarbeiten können. Dazu kommt ein Thema, das trotz der durchlebten Krisen noch gar nicht richtig in den Köpfen angekommen ist: Bevorratung und Vorratshaltung. Kommen wir auf Ihre Frage nach dem Welthunger zurück. In vielen Regionen Afrikas gäbe es keine Mangelsituationen, wenn vor Ort die geeigneten Maschinen und Technologien im Einsatz wären, um regional in Überflusszeiten Lebensmittel zu verarbeiten, haltbar und bevorratbar zu machen. Da müssen wir jetzt und sofort ansetzen. Und das tun wir, als Fraunhofer-Allianz, aber auch mit starken Partnern wie der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf und der TU München. Deutschland liegt da übrigens gar nicht so weit weg von Afrika. Wir haben hier ein System gezüchtet, in dem den Landwirtinnen und Landwirten die Rohstoffe oftmals auf einer sehr billigen Stufe aus der Hand genommen werden, um dann von der nachgeschalteten Industrie verarbeitet und verwertet zu werden. Bäuerinnen und Bauern brauchen die Technik und die maschinellen Lösungen, damit sie Obst, Gemüse und Kartoffeln nicht nur anbauen und abgeben, sondern direkt weiterverarbeiten können zu Produkten, über die sie mehr Wertschöpfung generieren können. Damit bekommen wir mehr Regionalität. Und weniger Ernte-und Nachernteverluste, aber auch eine Steigerung an Gütern, die bei uns regional über die Saison hinweg konsumiert werden können.
Schöne Idee, warum soll ich als satter, zufriedener Verbraucher etwas an einem System ändern wollen, das mich doch eben satt und zufrieden gemacht hat?
Weil Sie sensorisch Freude haben werden an mehr Variantenreichtum. Wenn wir zu einem System kommen, in dem regionaler produziert und in den Supermärkten angeboten wird, dann gewinnen Sie deutlich mehr Diversität! Wir sehen schon heute zahlreiche neue Kreationen, und die Freude am Mitgestalten und am Genuss wächst.
Dem Verbraucher versprechen Sie mehr Vielfalt, mehr Genuss. Was ist der Anreiz für die Wirtschaft, mehr Veränderung zu wagen?
Stabilere Lieferketten! Und Zukunftssicherheit! Ich warte auf die Unternehmerin und den Unternehmer, die in der Lage sind, so vorausschauend zu denken, dass sie heute schon den Tag vorwegnehmen, wenn die Gesetzgebung auch im Lebensmittelbereich insgesamt regulierend eingreifen wird. Oder ihnen die nächste Krise eine Grundlage entzieht, die sie bis gestern noch für gesichert hielten, in unserem globalen komplexen Netz.
Ist Resilienz also machbar?
Klar. Und mehr noch: Sie muss machbar sein. Dafür werden zwar tiefgreifende Veränderungen nötig sein. Die haben aber einen Riesenvorteil: Sie haben das Potenzial, unsere Lebensqualität insgesamt zu verbessern. Wenn wir Beispiele schaffen, die das vorleben, dann setzt sich das fort wie ein Keim. Und wächst. Und gedeiht.