Interview mit Judith Gerlach

Bayerische Staatsministerin für Digitales

»Ökosystem für Künstliche Intelligenz«

Judith Gerlach ist Bayerns jüngste Ministerin – und Deutschlands erste reine Digitalministerin. Zum Jahresbeginn hat die 37-Jährige den Vorsitz beim D16-Treffen der für Digitalisierung zuständigen Minister, Senatoren und Staatssekretäre der Länder übernommen. Ihr Ziel: »Deutschland muss digital spitze werden.«

Bayerns Digitalministerin Judith Gerlach, 37, hat aktuell den Vorsitz beim D16-Treffen der fürs Digitale zuständigen Minister.
© Foto: Christian Rudnik / BILD
Judith Gerlach, Bayerns Staatsministerin für Digitales.

Amazon, Google, Meta, Microsoft: Alle bauen Stellen ab. »Come to Bavaria« rufen Sie gerade sehr laut und werben um Digital-Fachleute. Frau Gerlach, haben Sie für die Möchte­gern-Bayern zum Laptop schon Lederhose und Dirndl vorbereitet?

Wir wollen die klügsten IT-Spezialisten nach Bayern holen, wofür der Freistaat beste Voraussetzungen bietet. Es gibt hier zahlreiche attraktive Job-Mög­lichkeiten dank eines hochinnovativen Forschungs­umfelds und vieler interessanter Wirtschaftspartner – vom Start-up über Mittelständler bis zum DAX-Konzern. Und on top: ein traumhaftes Umfeld mit großem Freizeitwert. Wer nach einer spannenden Aufgabe mit hohem Impact sucht und auf Sicherheit Wert legt, ist im öffentlichen Dienst genau richtig. Der Freistaat selbst bietet als Arbeitgeber Kündi­gungsschutz, Überstundenausgleich und die höchst attraktive Mission, die digitale Zukunft des Frei­staats für 13 Millionen Menschen zu gestalten.

Da sind wir ja schon in der Arbeitswelt. Sie selbst hatten »den besten Job der Welt«. Das war leider schon 2013, da sind Sie als jüngste Parlamentarierin in den Bayerischen Landtag ein­gezogen. Zehn Jahre später: Ist Deutschlands erste spezialisierte Digitalministerin ein Abstieg zum zweitbesten Job?

Ich komme aus der Sozialpolitik und war in meiner ersten Legislaturperiode im Sozialausschuss. Das hat mich geprägt, weil es so unmittelbar ist. Ich will Politik nah am Menschen für die Menschen machen. Diese Linie verfolge ich mit großer Leiden­schaft bis heute als Digitalministerin. Ich möchte Digitalpolitik machen, die den Menschen in diesem Land eine unmittelbare Verbesserung zum Status quo bringt. Und ja, es ist immer noch der beste Job der Welt, wenn auch mit anderen Themen.

Wir erleben den Fluch des Superlativs. Riskieren wir es noch einmal: Digital betrachtet – wo ist Bayern am besten?

Wir haben in Bayern die modernsten Behörden Deutschlands. Das zeigt ganz offiziell das Di­gital-Ranking des Bundesinnenministeriums. Nirgendwo können die Menschen so viele Behör­den-Services digital aufrufen wie in Bayern. Und nirgendwo wird so viel in Zukunftstechnologien investiert wie bei uns. Wir unterstützen allein den Forschungsbereich im Rahmen unserer Hightech Agenda mit insgesamt 3,5 Milliarden Euro und bauen allein im Bereich KI 100 neue Lehrstühle auf. Damit setzen wir wichtige Impulse, um etwa ein europaweit einzigartiges Ökosystem für Künstliche Intelligenz in Bayern zu etablieren.

Mit dem Munich Quantum Valley hat Bayern seine eigene Quantencomputing-Initiative geschaffen. Was versprechen Sie sich davon?

Damit hat Bayern ein europaweit einmaliges Netz­werk aus Politik, Wirtschaft und renommierten Wissenschaftspartnern wie der TU München, der Fraunhofer- und der Max-Planck-Gesellschaft ge­schaffen. Wir müssen bei dieser Schlüsseltechno­logie ganz vorne dabeibleiben. Hier werden gerade technisch die Voraussetzungen geschaffen für ganz viele Bereiche, vom Finanzsektor über Sicherheits- und Verteidigungslösungen bis zum Energiema­nagement. Deshalb ist es so wichtig, dass wir den Fortschritt der Quantentechnologie selbst mitge­stalten.

Das ist die Zukunft. Die Gegenwart sieht ganz anders aus. In einem EU-Ranking von 2021 steht Deutschland in Sachen Digitalisierung auf dem vorletzten Platz. Was können Sie besser als Volker Wissing, der Bundesminister für Digitales und Verkehr?

Ich kann in Berlin niemanden erkennen, der sich um Digitales kümmert. Herr Wissing ist zuständig für Mobilfunk- und Breitbandausbau, Frau Faeser macht Digitale Verwaltung, und bei Herrn Habeck liegen Innovation und Start-ups. Es herrscht ein Wirrwarr von Kompetenzen, und die Zuständigkei­ten sind völlig zerfasert. Kein Wunder, dass da nichts vorangeht. Anders bei uns im bayerischen Digital­ministerium. Wir treiben über alle Ressorts hinweg die Digitalisierung für die Staatsregierung voran, bei uns laufen die Fäden der Digitalpolitik zusam­men. Deshalb hätte ich mir auch auf Bundesebene ein eigenständiges Digitalministerium gewünscht. Wir müssen bei der Digitalisierung deutlich an Ge­schwindigkeit gewinnen! Wir stehen im harten in­ternationalen Wettbewerb mit China und den USA. Wir brauchen in Deutschland eine klare Strategie und mehr Investitionen in die Digitalisierung.

Im D16-Digitalministertreffen haben Sie gerade den Vorsitz bis zum Sommer übernommen. Wie bringen Sie die Kollegen auf Trab?

Bei D16 kämpfen wir alle mit großer Energie für ein gemeinsames Ziel: Deutschland muss digital spitze werden. Ein moderner Staat ist ein ser­viceorientierter Staat. Wir wollen dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen und Organisationen über zukunftsfähige Ange­bote verfügen und diese sicher nutzen können.

Vor einem Jahr im Sommer hat es Bayern zu Deutschlands erstem »Digital-Gesetz« gebracht. Hat es sich gelohnt?

Mit dem Digitalgesetz haben wir deutschland­weit die erste und im europäischen Vergleich eine besonders fortschrittliche Rechtsgrundlage gelegt. Es schafft erstmals juristische Rahmen­bedingungen, damit alle Menschen von den Vorteilen der Digitalisierung profitieren. Es ist die Grundlage für den modernen Digitalstaat.

Weil wir schon bei Gesetzen sind: Deutschlandweit wirkt die Bilanz dürftig. Nach dem Online-Zugangsgesetz sollten bis Ende 2022 alle Verwaltungsleistungen digital für Bürgerinnen und Bürger verfügbar sein. Der Nationale Normenkontrollrat, das unabhängige Beratergremium der Bundesregierung, zählt jetzt durch, dass von 575 Behördenleistungen erst 33 digitalisiert sind. Selbst das Bundesinnenministerium kommt nur auf gut 100. Warum ist Digitalisierung in Amtsstuben eigentlich so schwer?

Wir für uns in Bayern haben im Rahmen des Möglichen unsere Hausaufgaben gemacht und über 98 Prozent der staatlichen Leistungen ab­geschlossen. Wie schon erwähnt, liegen wir im Bund inzwischen an der Spitze. Aber insgesamt sind wir noch lange nicht fertig. Viele Leistun­gen für die Bürgerinnen und Bürger haben ja nicht die Länder oder der Bund, sondern vor allem die Kommunen in eigener Verantwortung zu erbringen. Hier haben wir erfolgreich An­reize gesetzt: Immer mehr Gemeinden nehmen an unserem Programm »Digitales Rathaus Bayern« teil, mit dem wir finanziell unterstüt­zen. Wir stellen als Freistaat zentrale Online- Dienste über den sogenannten BayernStore zur Verfügung. Diese Online-Dienste können die Kommunen einfach kostenlos abonnieren und den Menschen zur Verfügung stellen. Und wir motivieren unsere Kommunen noch durch die Auszeichnung zum »Digitalen Amt«.

Sie gehen es ja auch von der anderen Seite her an. In 30 bayerischen Städten und Gemeinden sollen Digital-Beratungsstellen eingerichtet werden. Die Bewerbungsfrist endet Mitte März. Wie groß ist das Interesse?

Wir bekommen sehr viele Rückmeldungen! Das zeigt mir: Die Beratungstheken kommen an und schaffen einen echten Mehrwert, insbesondere für die noch nicht so digital affinen Menschen. Als Digitalministerin ist es mein Ziel, dass alle Menschen vom digitalen Fortschritt profitieren – unabhängig von Alter, Geschlecht, Einkom­men oder Herkunft.

Wir sehen Sie immer wieder als Vorleserin in Schulen. Ist das für eine Digitalministerin nicht irgendwie gestrig?

Nein, ganz und gar nicht! Lesen und Textver­ständnis sind Grundvoraussetzungen für einen souveränen Umgang mit der digitalen Welt. Gera­de das aktuelle Beispiel der KI-Software ChatGPT zeigt, dass wir noch viel kritischer auf digital ver­mittelte Inhalte schauen sollten. Damit müssen wir bereits bei den Kindern anfangen. Vorlesen ist dabei das beste Training für die Kleinen.

»Der kleine König« war eines Ihrer Vorlesebücher. Ich bin da nicht so auf dem Laufenden: Geht es um Markus Söder?

Das muss schon länger her sein. Zuletzt las ich »Die kleine Hexe«. Und nein, da ging es nicht um mich.

Noch einmal auf die Schulbank: Gerade noch haben wir zu Pandemiezeiten mehr Digita­lisierung in den Schulen gefordert. Jetzt disku­tieren wir, ob ChatGPT, wieder einmal, den Untergang des Abendlandes bedeutet. Welche Art von Bildung ist die Bildung für die Zukunft?

Ich halte nichts davon, gleich mit Verboten und Horrorszenarien zu kommen, wenn es um Innovationen geht. Das Angebot wird nicht ver­schwinden, wenn wir es aus den Klassenzim­mern verbannen. Wir müssen lernen, sinnvoll damit umzugehen. Aber auch unser Bildungs­system muss sich permanent weiterentwickeln. Möglicherweise werden mündliche Prüfungen künftig eine deutlich wichtigere Rolle einneh­men als Hausarbeiten, weil KI da nicht beim Schummeln helfen kann.

Im Kollegenkreis, wir nennen keine Namen, lassen sich Schulkinder längst ihre Hausarbeiten von Künstlicher Intelligenz schreiben. Sie sind ja nicht nur Digitalministerin, Sie sind auch Mutter zweier Kinder: Wie gefährlich ist so eine Entwicklung wirklich?

Wir brauchen hier künftig andere Bewertungs­kriterien in den Schulen. Wenn eine KI eine Prüfung besteht, dann müssen wir vielleicht die Prüfungsvorgaben ändern. Es sollte künftig aus meiner Sicht in der Schule noch mehr darum gehen, Sachzusammenhänge auf den Punkt zu bringen und Informationen kritisch zu hinter­fragen, statt Inhalte wiederzugeben oder über Themen zu referieren. Entscheidend ist, dass wir unsere Kinder auf den künftigen Umgang mit solchen Technologien vorbereiten. Der pas­sende Umgang mit ChatGPT und Co. könnte in der Schule künftig so normal sein wie das ABC.

Sie arbeiten an einer eigenen KI-Strategie. Wohin will sich Bayern entwickeln?

Wir müssen Zukunftstechnologien wie KI nicht nur verstehen, sondern auch gestalten. Deswe­gen war es richtig, mit der bayerischen Hightech Agenda 3,5 Milliarden Euro in Forschung und Universitäten zu investieren, 100 neue KI-Lehr­stühle aufzubauen und den Transfer von KI in die Wirtschaft aktiv zu gestalten. Denn wir können uns nicht wegducken. Sonst zieht der Rest der Welt an uns vorbei, während wir in Deutschland nur Bedenken haben. Bayern ist dabei auf dem besten Weg, zum modernsten Digitalstaat zu werden. Und auch im Bereich der Künstlichen Intelligenz setzen wir uns mit unserer KI-Strategie an die Spitze.

Sie saßen kürzlich in einer TV-Talkshow Seite an Seite mit dem Roboter Pepper. Der digitale Kollege hat auf die Frage, ob Künstliche Intelligenz zu einer Revolution führen werde, schlicht geantwortet: »Ja!«. Worin bestehen die großen Chancen?

Die Einsatzmöglichkeiten von KI sind zahl­reich, nehmen Sie zum Beispiel den bayerischen Mittelstand. Wir helfen hier konkret dabei, dass Unternehmen im Freistaat ihre Geschäftspro­zesse effektiver und kostengünstiger gestalten können. Im Rahmen unseres Programms »KI-Transfer Plus« arbeiten wir beispielsweise mit einem Landmaschinenhersteller zusammen, dessen Maschinen künftig dank KI punktgenau erkennen, ob es sich auf dem Acker um die an­gebaute Pflanze oder um Unkraut handelt. So lassen sich Pestizide sparsamer und zielgenauer einsetzen.

KI löst Ängste aus: Unbestimmte Ängste, aber auch sehr bestimmte Sorgen, dass Arbeitsplätze überflüssig werden könnten. Welche Jobs sehen Sie in Gefahr?

In der Debatte werden schnell Horrorszenarien entwickelt, die mit der Realität nichts zu tun haben. Wir haben es doch selbst in der Hand, wie wir die großen Chancen neuer Technologien für uns nutzen. Der Einsatz von Robotern in der Pflege ist zum Beispiel sinnvoll. Das heißt aber nicht, dass jetzt nur noch Roboter in Senioren­heimen eingesetzt werden. Das will niemand! Wenn wir uns bei einigen Aufgaben aber von Robotern unterstützen lassen, dann haben die Pflegekräfte, die wir ja auch händeringend su­chen, mehr Zeit für das eigentlich Menschliche.

Ganz zum Schluss die Frage zum Ab­schalten: Kann man es sich als Digitalministerin noch leisten, auch mal offline zu sein?

Natürlich! Die schönsten Dinge auf dieser Welt sind analog. Das Zusammensein mit der Familie oder ein persönliches Gespräch mit Freunden kann keine App ersetzen.

 

Fraunhofer-Magazin
1/2023

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