Interview mit Friedrich Merz

CDU-Vorsitzender

»Was mir fehlt, ist Zukunftsoptimismus!«

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz plädiert für mehr Technologie-Offenheit. Allerdings bezweifelt der Hobby-Pilot, dass er je mit Wasserstoff fliegen wird.

Friedrich Merz, 67, vor seinem Büro als Fraktionsvorsitzender der Union im Jakob- Kaiser-Haus des Bundestags in Berlin.
© Andreas Chudowski
Friedrich Merz, 67, vor seinem Büro als Fraktionsvorsitzender der Union im Jakob- Kaiser-Haus des Bundestags in Berlin.

Herr Merz, ist Deutschland wehleidig geworden?

Wir neigen jedenfalls eher zum Pessimismus als zum Optimismus. Hierzulande ist das Glas meistens halb leer. In Amerika dagegen ist das Glas immer halb voll, mindestens!

»Krise ist zum Lieblingswort der Zeit geworden.« Wissen Sie, von wem dieses Zitat stammt? Es ist von Norbert Blüm. Und es stammt aus dem Jahr 1985. Es scheint nicht nur heute so zu sein, dass gerne von Krisen gesprochen wird.

Und seitdem sind die Lösungsvorschläge fast immer dieselben. Entsteht irgendwo ein Problem, dann muss es mit mehr Geld gelöst werden. Gibt es irgendwo ein administratives Problem, dann wird erst einmal mehr Personal eingestellt. Immer mehr Personal in der Staatsverwaltung, immer mehr Geld aus den Staatshaushalten – das kann so nicht ewig weitergehen.



Herr Merz, Sie hatten sich ja zwölf Jahre aus der Politik verabschiedet und waren Aufsichtsratsvorsitzender für den weltgrößten Vermögensverwalter Blackrock. Frage deshalb an den Mann aus der Wirtschaft: Wann ist ausgegebenes Geld sinnvoll investiertes Geld?

Staatliches Geld ist dann gut investiert, wenn es den Sozialstaatsauftrag des Grundgesetzes erfüllt, wenn es die Freiheit der Menschen nach innen und außen sichert und wenn es im Übrigen in die Infrastruktur des Landes fließt. Maßstab dafür sollte die Mehrung des Volksvermögens sein. Vor allem muss es der jungen Generation zugutekommen.

Sie sind, heute fast ja schon unanständig, seit 41 Jahren verheiratet – und das auch noch mit derselben Frau. Sie haben drei Kinder, sechs Enkel. Wie wird deren Zukunft in Deutschland aussehen?

Individuell haben die sechs noch keine Entscheidung getroffen, dafür sind sie einfach noch zu jung. Aber für diese Generation wird sich dringlicher denn je die Frage stellen, welche Zukunft unser Land ihnen bieten kann. Schon jetzt verlassen ja jedes Jahr geschätzt rund 180 000 deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger unser Land, oft gut ausgebildete junge Menschen, und nur rund zwei Drittel kehren irgendwann wieder zurück, wenn die Zahlen richtig sind. Wir sprechen viel über Einwanderung. Aber vielleicht sollten wir uns auch um diejenigen kümmern, die auswandern wollen, weil sie anderswo bessere Zukunftschancen sehen.

Halten Sie die Abwanderung aus Deutschland für ein echtes Problem?

Wenn ich es richtig sehe, ist das Phänomen bisher nicht gut genug untersucht, auch über die Motive wissen wir zu wenig. Und der Wanderungssaldo ist seit vielen Jahren positiv, die Bevölkerung in Deutschland wächst. Ende 2021 sind wir ja völlig überrascht worden, dass in Deutschland 84,2 Millionen Menschen wohnen, wir waren immer von 81 oder 82 Millionen Einwohnern ausgegangen. Auch wissen wir bis heute nicht, wer aus dem europäischen Ausland auf Zeit oder auf Dauer bei uns lebt und arbeitet. Das können wir allenfalls durch schwierige Abfragen über Krankenkassendaten in Erfahrung bringen – und selbst da sind die Zahlen nicht zuverlässig genug. Wir bewegen uns im Melde­wesen ja immer noch in einem weitgehend analogen Zeitalter. Ich würde gerne auf einer solideren Datengrundlage arbeiten. Unsere Infrastruktur muss ja auch zielgenau ausgerichtet sein: Kitas, Schulen, Krankenhäuser, Wohnungen.

Infrastrukturmaßnahmen im Blindflug: Wie sehen Sie das Deutschland, in dem Ihre Enkel aufwachsen werden?

Eines ist durch den Ukraine-Krieg jedenfalls unübersehbar geworden – es ist keine Selbstverständlichkeit mehr, dass sie in einem freien, demokratischen und friedfertigen Europa leben können. Das aber wäre das Allerwichtigste.

Christlich?

Jedenfalls kulturell geprägt von christlich-abendländischen Traditionen.

Ein Einwanderungsland?

So wie wir es schon sind seit langer Zeit, aber dann hoffentlich mit einer Einwanderung, die deutlich besser gesteuert ist.

Wie kommt Deutschland zu mehr Fachkräften?

Neben der Hebung von Fachkräftepotenzial im Inland wird es von großer Bedeutung sein, Talente aus dem Ausland für Deutschland zu gewinnen. Für die Einwanderung von Fachkräften schlagen wir eine neue Bundesagentur für Einwanderung vor – auch genannt: »Work-and-Stay«-Agentur. Fachkräfte erhalten so den gesamten Service aus einer Hand: von der Arbeitsplatzvermittlung, der Prüfung der Voraussetzungen für die Einreise über das nötige Visum bis hin zum Aufenthaltstitel nach Ankunft in Deutschland. Die Bundesagentur für Einwanderung übernimmt alle Verfahren der Einwanderung, die zurzeit bei den deutschen Auslandsvertretungen und bei den Ausländerbehörden der Landkreise und Kommunen geführt werden und die keine Asylverfahren sind. Diese Einwanderungsagentur arbeitet von Beginn an ausschließlich auf der Basis digitaler Verfahren und wird mit modernster Technik ausgestattet. Sie ist auch Arbeitsvermittlungsagentur für alle Arbeitskräfte aus dem europäischen und nicht-europäischen Ausland.

Wie werden Ihre Enkel arbeiten?

Vermutlich noch sehr viel digitaler und mobiler. Auch noch vielfältiger. Sie werden – anders, als ihre Eltern und Großeltern – nicht den einen Beruf ergreifen, behalten und bis zum Ruhestand ausüben.

Macht Ihnen die Zukunft Sorge?

Ich glaube, dass in unserem Land immer noch genug Dynamik und Kraft steckt, um viele Dinge wirklich gut zu lösen. Was mir fehlt, ist dieser Zukunftsoptimismus auch in der politischen Führung unseres Landes. Deutschland versteckt sich zu viel. Ich merke das auf jeder Auslandsreise. Wenn ich zurückkomme, egal aus welchem Land, dann bringe ich immer den Eindruck von meinen Gesprächspartnern mit, dass von uns mehr erwartet wird, als wir liefern. Und dass wir umgekehrt meinen, weniger liefern zu müssen, als da draußen wirklich erwartet wird. Wir machen uns kleiner, als wir im Blick von außen tatsächlich sind.

In Ihrer Wahrnehmung verzwergen wir uns fahrlässig?

Ja, ein Stück weit sicherlich.

Wie nehmen Sie die Innovationskraft in unserem Land wahr?

Teilweise atemberaubend gut. Wir haben KI-Institute in Deutschland, wir haben tolle Entwicklungen im Bereich modernster Technologien, wir sind ein Land, das im Bereich der Wasserstofftechnologien vieles kann, auch im Bereich der regenerativen Technologien. Wir sind ein Land, das Biotechnologie kann – siehe Biontech, siehe CureVac. Und bleiben wir bei dem Beispiel: Kaum sind diese beiden Unternehmen groß genug, um richtig zu produzieren, brauchen sie Kapital – und wo gehen sie hin: nach New York an die Börse. Das ist für sich genommen schon nicht schön. Was ich wirklich problematisch finde, ist noch etwas anderes: dass es in diesem Land offenbar kaum jemand bemerkt. Darüber wird ja praktisch gar nicht diskutiert. Oder schauen Sie aufs andere Ende der Skala: Da geht ein Unternehmen Linde aus dem deutschen Aktienindex heraus, weil es zu groß wird, und so ein Thema findet auf den hintersten Seiten der Wirtschaftszeitungen statt.

Was kann, was soll die Forschung für eine erstrebenswerte Zukunft beitragen?

Es braucht eine Beschleunigung von Planungsverfahren nicht nur bei Windrädern, sondern auch für den Ausbau der digitalen Infrastruktur. Wir müssen uns doch die Frage stellen: Wo wollen wir in zehn Jahren stark sein? Pharma, Biotechnologie, Maschinenbau, Umwelttechnologien oder Künstliche Intelligenz, die Verknüpfung von Digitalisierung und Dekarbonisierung – überall liegen Möglichkeiten für neue Wertschöpfung am Wirtschaftsstandort Deutschland. Soziale Marktwirtschaft und der Wettbewerb bringen die besten Innovationen hervor. Nur so können wir unseren Wohlstand erhalten. Neben der notwendigen Infrastruktur müssen aber zum Beispiel auch bereits von der Vorgängerregierung aufgesetzte Prozesse wie der Onlinezugang zu Behördendienstleistungen und der Umgang mit Daten vorangebracht ­werden.«

Stichwort Innovationskraft: Wann werden Sie als begeisterter Pilot mit Wasserstoff fliegen?

Schwer zu sagen. Wahrscheinlich, so zumindest meine Einschätzung, eher mit synthetischen Kraftstoffen. Wasserstoff ist für den Flugbetrieb noch sehr poblematisch, Sie müssen mit hohen Minusgraden und extrem hohem Druck tanken.

Haben Sie den Eindruck, dass Forschung in Deutschland breit genug aufgestellt ist?

Mir fehlt, auch in unserer gesellschaftspolitischen Debatte, die Bereitschaft zum 360-Grad-Blick. Wir schließen zu viele Dinge zu früh

aus. Und wir steigen aus, bevor wir wissen, wo wir stattdessen einsteigen. Wir sind aus der Kernenergie ausgestiegen – und das vor zwölf Jahren –, und wir wissen bis heute nicht, wo wir einsteigen wollen. Wir steigen jetzt aus dem Verbrennermotor aus. Und wir wissen nicht, was an seine Stelle kommt: Elektromobilität kann eine Antwort sein. Oder Wasserstoff. Oder synthetische Kraftstoffe. Oder vielleicht wird alles parallel miteinander die Zukunft der Mobilität sein. Mir gefällt dieser Mindset nicht, dass wir erst einmal sehr stark ideologisch diskutieren. Damit setzen wir uns fahrlässig die Scheuklappen auf. Und schließen damit technologische Entwicklungen aus, die wir noch gar nicht kennen. Das ist, wie es der Ökonom Friedrich August von Hayek genannt hat: angemaßtes Wissen. Eine sehr schöne Formulierung. Würden wir heute noch einmal aus der Kernenergie aussteigen? Ziemlich sicher nicht. War es richtig, den Dual-Fluid-Reaktor in Deutschland zu ignorieren und zuzulassen, dass er von kanadischen Investoren gekauft wird? Wahrscheinlich auch nicht.

Ein flammendes Plädoyer für Technologie-Offenheit, Herr Merz?

Ja, das ist der richtige Begriff. Aber wir müssen das Schlagwort auch mit Inhalt füllen und dürfen uns nicht am Einzelfall festbeißen. Die Politik muss diesem Land einen Impuls geben, der getragen ist von Selbstbewusstsein und Offenheit. Die Deutschen haben ein ausgeprägtes Sicherheitsgefühl. Wir müssen aber bereit sein, auch einmal ins Ungewisse zu gehen. Dazu braucht es Vertrauen in die politische Führung.

Wer wird der nächste Kanzler, Herr Merz?

Wir haben erst einmal einen. Und mit dem setzen wir uns auseinander.

Sie gehören zu den üblichen Verdächtigen als Kandidat für die Nachfolge.

Das ehrt mich.

Von den zehn Vorsitzenden der CDU ist mehr als die Hälfte auch Kanzler geworden.

Damit lässt sich leben.

Wie aber ist Ihre Partei aufgestellt? Sie selbst haben die CDU ja 2022 als »schweren politischen Sanierungsfall« bezeichnet.

Wir befinden uns in der Phase zwei von drei. Phase eins war Konsolidierung in der Opposition. Wir haben diese Rolle nach dem schlechten Wahlergebnis von 2021 gut angenommen. Wenn wir aber nicht nur die Opposition von heute, sondern die Regierung von morgen sein wollen, dann müssen wir heraus aus dem Modus, nur Opposition zu sein. Wir müssen den Hebel umlegen und deutlich machen, was wir denn besser machen wollen. Das ist eine Aufgabe, die die Partei und die Bundestagsfraktion leisten müssen. Deshalb kümmere ich mich nach den vier Landtagswahlen des vergangenen Jahres auch sehr viel intensiver um die Partei. Und da sind wir mitten in einem Erneuerungsprozess.

Für Sie die Phase zwei.

Die wir nächstes Jahr im Mai abschließen. Und damit rechtzeitig vor der Europawahl 2024 und der Bundestagswahl 2025.                                     

 

Fraunhofer-Magazin
2/2023

Titelthema: Wie wir sicher essen

Lebensmittel: Versorgung für die Zukunft