Die Kurve bekommen

Ein Standpunkt von Thomas Ingenlath, CEO des schwedischen Elektroautoherstellers Polestar

Thomas Ingenlath, CEO des schwedischen Elektroautoherstellers Polestar

Fraunhofer-Magazin 1.2023

Thomas Ingenlath, CEO des schwedischen Elektroautoherstellers Polestar
© Foto: Thomas Einberger/argum/imago images
Thomas Ingenlath kam als Auto-Designer vom Volkswagenkonzern und leitet seit 2017 als CEO die Geschäfte des schwedischen E-Auto-Spezialisten Polestar.

Elektrifizierung ist nur der Anfang: Selbst wenn morgen jeder verkaufte Wagen ein Elektroauto wäre, würden die Emissionen der Autoindustrie noch immer weit über ihrem CO2-Budget liegen. In diesem entscheidenden Moment der Geschichte sollten sich alle relevanten Player zur Zusammenarbeit aufgerufen sehen.

Die Emissionen von Personenkraft­wagen machen heute 15 Prozent aller weltweiten Treibhausgas­emissionen aus. Vielversprechend ist, dass wir im Gegensatz zu vielen anderen Branchen eine bestehende, skalierbare Lösung für das Klima haben: das Elektrofahrzeug. Bis­her hat sich die Automobilindustrie vor allem auf die Elektrifizierung und die schnellere Ver­breitung konzentriert. Aber wenn wir ernst­haft etwas für das Klima tun wollen, müssen wir zugeben, dass die Elektrifizierung noch nicht das Ende ist, sondern nur ein Anfang.

Nach dem Pathway-Bericht, von Polestar und dem US-Elektroauto-Hersteller Rivian mit der globalen Unternehmensberatung Kearney erstellt, wird die Autoindustrie ihr globales Kohlenstoffbudget bis 2035 aufgebraucht ha­ben und ab diesem Zeitpunkt die 1,5-Grad- Grenze massiv übersteigen – wobei bis 2050 eine Überschreitung um 75 Prozent zu erwar­ten ist. Bei der Modellierung eines hypothe­tischen »Well-to-Wheel«-Szenarios, das von einer aggressiven Einführung batteriebetrie­bener Elektrofahrzeuge ausgeht, die zudem hypothetisch komplett mit Strom aus erneu­erbaren Energien betrieben werden, kommt es immer noch zu einer Überschreitung der Treibhausgasemissionen, wenn nicht gleich­zeitig die Emissionen in der Fertigungsliefer­kette angegangen werden.

Die schockierenden Ergebnisse des Pathway-Berichts hat Polestar gemeinsam mit Rivian und Kearney vor der Veröffentlichung einigen der weltweit führenden Automobil­herstellern zur Verfügung gestellt, und wir laden die Branche weiterhin ein, zusammen­zukommen, die Daten zu prüfen und mit der Arbeit an Bereichen kollektiver Klimaschutz­maßnahmen zu beginnen. Die Daten zeigen einen Weg auf, der auf drei wichtigen Hebeln basiert. Hebel 1 betrifft die Geschwindigkeit, mit der mit fossilen Brennstoffen betriebe­ne Autos durch Elektroautos ersetzt werden müssen. Hebel 2 ist der Ausbau erneuerbarer Energien in Stromnetzen, Hebel 3 die Verrin­gerung der Treibhausgasemissionen in der Fertigungslieferkette.

Nur durch sofortiges, gemeinsames Han­deln aller Automobilhersteller haben wir noch eine Chance: Erstens muss die Branche den Übergang zu Elektrofahrzeugen beschleuni­gen, indem sie in Produktionskapazitäten in­vestiert und ein festes Datum für das Ende des weltweiten Verkaufs von Autos mit fossilen Brennstoffen festlegt. Zweitens muss die Ver­sorgung mit erneuerbarer Energie für globale Netze ausgebaut werden, damit Elektrofahr­zeuge ihr volles Potenzial durch grünes Laden ausschöpfen können. Drittens müssen die Fer­tigungslieferketten für die Herstellung dieser Fahrzeuge dekarbonisiert werden, indem auf kohlenstoffarme Materialien umgestellt und in Lösungen für erneuerbare Energien für Lie­ferketten investiert wird.

Um die große Herausforderung des dritten Hebels anzugehen und die Lieferketten zu dekarbonisieren, ist Zusammenarbeit der Schlüssel. Gemeinsam können wir ein kla­res Signal an die Zulieferer senden, indem wir unsere kollektive Kaufkraft nutzen und Nach­fragekoalitionen bilden sowie gemeinsam auf ehrgeizige Ziele hinarbeiten. Im April 2021 haben wir das Polestar-0-Projekt ins Leben gerufen. Unser Ziel ist es, bis 2030 ein wirk­lich klimaneutrales Auto zu bauen, indem wir die Art und Weise, wie Autos hergestellt werden, ändern, anstatt uns auf irreführen­de Kompensationsprogramme zu verlassen. Das bedeutet, dass wir alle CO2e-Quellen in der gesamten Lieferkette eliminieren wollen, von der Rohstoffgewinnung über die Material-und Fahrzeugproduktion bis hin zur Ausliefe­rung und zum Ende des Lebenszyklus.

Bislang haben wir mit mehr als 20 der welt­weit führenden Automobilzulieferer aus ver­schiedenen Bereichen der Lieferkette For­schungsvereinbarungen unterzeichnet, dar­unter deutsche Marktführer wie das globale Technologieunternehmen ZF, mit Vitesco, einem Anbieter von Antriebs- und Kraftüber­tragungstechnologien für die Automobilindus­trie, und Schlötter, einem Spezialisten für Gal­vanotechnik.

Wir freuen uns, dass inzwischen so viele unsere Vision teilen und sich an diesem Pro­jekt beteiligen wollen, aber die Suche geht wei­ter. Es werden noch weitere Partner aus dem akademischen Bereich und aus der Wirtschaft benötigt, und wir konzentrieren uns auf Part­ner für Rohstoffe, biobasierte Chemikalien, Polymere, elektrische Komponenten, Edelga­se und die Produktion anderer Grundstoffe.

Autohersteller und Industrie müssen über den Wettbewerb hinausschauen – die Klima­krise ist eine gemeinsame Verantwortung. Be­trachten Sie dies als einen Aufruf zur Zusam­menarbeit.