Technologische Souveränität

Fraunhofer-Magazin 3/2021

»Wir haben gezeigt, dass wir digital können.«

Dr. Bernd Althusmann, Wirtschaftsminister in Niedersachsen
© MW/Martin Rohrmann
Dr. Bernd Althusmann ist Wirtschaftsminister in Niedersachsen – und energischer Verfechter der Digitalisierung. Im Interview sieht er auch die Gefahren: »Cyberspionage bei den Parteien ist ein wichtiges Thema, das wir sehr ernst nehmen.«

Herr Althusmann, was fällt Ihnen zu einem Deutschland der Dichter ein?

Bernd Althusmann: In erster Linie das, was wir wohl alle mit diesem Begriff verbinden: Wir haben das Glück, dass es in Deutschland immer Köpfe mit weltweiter Strahlkraft gab, die ihre Zeiten geprägt haben. Das ist bis heute so.

Ist es heute noch gerechtfertigt, von einem Deutschland der Denker zu sprechen?

Eindeutig ja, denn unser größtes Pfund – neben der Industrie – war immer und ist weiterhin Bildung, Wissenschaft und Forschung. Das lässt sich vor allem am Erfindergeist in unserem Land ablesen. Im Jahr 2020 wurden über 42 000 Patente in Deutschland angemeldet. Über 3300 Anmeldungen kamen aus Niedersachsen. Mit 40 Patenten pro 100 000 Einwohnern liegen wir im Bundesvergleich auf Rang drei – hinter Bayern und Baden-Württemberg. Sie sehen, das Fortschrittsdenken ist nicht erst seit Corona ein wichtiges Thema für uns.

Womit wir beim dritten »D« sind, das Sie wiederholt angemahnt haben: Warum for­dern Sie, dass sich Deutschland Digitalisierung als Staatsziel setzen muss?

Die Beantwortung dieser Frage ist mehrschich­tig. Ich versuche, es kurz und knapp zu sagen. Die Frage ist, wie eine zeitgemäße Staatlichkeit aussehen soll. In den kommenden Jahren soll der Online-Zugang zu Vorgängen der öffentli­chen Verwaltung die »Zettelwirtschaft« bei Be­hördengängen ersetzen. Wir wollen eine bürger­freundliche Dateninfrastruktur schaffen, Bür­gerkonten und elektronische Identitäten sollen etabliert werden. Die Zukunft einer modernen Verwaltung ist digital. Der Begriff »Staatsziel« ist ja nicht neu. Die digitale Grundversorgung ist Teil der allgemeinen Daseinsvorsorge. Im Klartext: Diese Leistung muss zur Verfügung stehen – wie Strom und warmes Wasser, weil sie unser Leben auch in anderen Lebensbereichen maßgeblich prägen wird. Wie wichtig die Digi­talisierung ist, wurde uns in den vergangenen anderthalb Jahren vor Augen geführt: Je digi­taler eine Volkswirtschaft aufgestellt war, desto besser hat sie die Krise gemeistert.

Es war doch für manchen verstörend, dass Gesundheitsämter in den Kampf gegen Corona-Infektionsketten mit Kugelschreiber, Papier und Fax-Gerät ziehen mussten.

Die Pandemie hat uns gezeigt, wie lang die Wege der Umsetzung mitunter sind. Das Thema Digi­talisierung habe ich umgehend nach Amtsantritt auf die Agenda gesetzt. Im Niedersächsischen Wirtschaftsministerium gibt es seit 2018 einen eigenen verantwortlichen Staatssekretär und eine Stabsstelle für Digitalisierung. Hier wird sehr gute Arbeit geleistet. Seit Mitte 2018 setzen wir Schritt für Schritt unseren Masterplan Digi­talisierung um. Er umfasst über 90 Maßnahmen, der Großteil ist erfreulicherweise bereits abge­arbeitet. Und: Wir erhöhen den Digitalisierungs­grad. Dabei spreche ich nicht nur von Schulen und Amtsgebäuden. Über das Programm »Digi­talbonus Niedersachsen« fördern wir kleine und mittlere Unternehmen, die Investitionen in ihre Strukturen planen, mit bis zu 10 000 Euro. Die­ses Programm ist eine Erfolgsgeschichte. Und zu Kugelschreiber, Papier und Fax würde ich gerne anmerken: Das sind Begriffe, die gerne verwen­det werden, weil sie so schön plakativ sind. Aller­dings bitte ich darum, dass jeder sich hinterfragt: Benutze ich selbst noch Stift und Zettel?

Manchmal steht ein viertes »D« gegen Digitalisierung: Datenschutz. Können Sie nach­vollziehen, dass auch der Corona-Warn-App der Start so schwergemacht wurde?

Ich bezweifle, dass Datenschutz gegen Digitali­sierung steht. Denn gerade, wenn wir über ein Staatsziel sprechen, müssen Daten so gut wie möglich geschützt werden. Auch den Daten­schutz gilt es zu modernisieren. Die Corona-App ist ein gutes Beispiel, wie digitale Prozesse funk­tionieren können und ständig angepasst werden. Zuerst ging es darum, eine geschützte Risiko­ermittlung zu etablieren. Nun wissen wir, dass Eincheck- und Impfzertifikatsfunktionen die Re­levanz der App ausmachen. Allerdings sollten wir solche Weiterentwicklungen der App auch den Nutzerinnen und Nutzern kontinuierlich besser vermitteln. Nicht nur in Deutschland gab und gibt es Dichtende und Denkende, aus dem alten Griechenland stammt der Spruch: »Steter Tropfen höhlt den Stein.« Was können wir also aus der Einführung der Corona-App lernen? Wir brau­chen eine breite Öffentlichkeitsarbeit, und zwar nicht erst kurz vor der Ziellinie, sondern bereits beim Startschuss. Entscheidend für den Erfolg ist, dass die Bürgerinnen und Bürger einen konkre­ten Mehrwert erkennen und akzeptieren.

Vertrauen ist die Währung, wenn sich Menschen die Digitalisierung zunutze machen sollen. Im Deutschland-Index der Digitalisie­rung gaben 73 Prozent der Befragten an, dem Umgang der öffentlichen Verwaltung mit ihren privaten Daten zu vertrauen. Zu viel der Vor­schuss-Lorbeeren?

Der Wert erinnert mich ein wenig an die Impf­quote. 73 Prozent sind schon sehr gut, 100 Pro­zent wären besser. Im Ernst: Vorschuss-Lorbeeren sollten ein Antrieb und kein Ruhekissen sein.

Im Land der Dichter, Denker und Digitalisierer gibt es immer wieder schöne neue Worte. Bringt uns das »Registermodernisierungsgesetz« in diesem Jahr einen großen Schritt voran?

Die Politik hat in der letzten Zeit versucht, Ziel und Sinn von Gesetzen schon im Namen zu ver­deutlichen. Das war ein sicherlich gut gemein­ter Versuch einer besseren Kommunikation zwischen Politikerinnen und Politikern und Bürgerinnen und Bürgern – aber heraus ka­men blumige Wortgebilde oder verschwurbelte Schachtel-Ungetüme. Im Fall des »Registermo­dernisierungsgesetzes« aber wissen zumindest alle Fachleute, dass hier für die Betriebe in Deutschland ein deutlicher Vorteil entsteht: Beim Kontakt mit einer Verwaltung muss das Unternehmen nicht immer wieder die gleichen Daten angeben, wenn sie an anderer Stelle be­reits bekannt sind. Entscheidend ist, dass die Unternehmens-ID ausreicht, um sich zu identifizieren. Für den Bürger ist die Steuer-ID ent­scheidend. Meldebescheinigung oder Geburtsur­kunde müssen nicht jedes Mal erneut vorgelegt werden. Dadurch werden die Bearbeitungszeiten kürzer. Also: Ja. Dieses Gesetz wird – trotz des sperrigen Namens – eine der Grundlagen für digitalisiertes Handeln des Staates sein und uns alle damit einen großen Schritt voranbringen.

Auch »Verwaltungsverfahrensgesetz« ist ein schönes deutsch gedichtetes Wort. Sol­len digitale Nachweise und Papiernachweise gleichgestellt werden?

Ein gutes Beispiel für eine »Ja, aber«-Antwort. Wir müssen zunächst einige Voraussetzungen klären beziehungsweise schaffen – in diesem Fall unter anderem die Frage der Authentifizie­rung. Die technischen Mittel sind vorhanden. Wenn eine digitale Signatur fälschungssicher und eindeutig zuzuordnen ist sowie die langfris­tige Archivierung gewährleistet werden kann, können wir auch mit digitalen Dokumenten so umgehen, wie wir es aktuell mit analogen Un­terlagen tun. Klar ist aber auch: Es wird immer Abstufungen und unterschiedliche Sicherheits­klassen geben – ein Personalausweis ist nun mal in seinen Sicherheitserfordernissen anders ein­zustufen als ein Bewohnerparkausweis.

Glauben Sie an digitale Souveränität – und: Wie ist sie zu erreichen?

Digitale Souveränität meint in erster Linie die Möglichkeit, auch in der digitalisierten Welt nach eigenen Werten und Normen zu leben. Wenn zum Beispiel die US-amerikanische Überwachungspraxis jeglicher Telekommuni­kation gegen europäisches Recht verstößt, kann die Antwort darauf nicht sein, auf die eigene Grundrechte-Charta zu verzichten. Vielmehr muss Europa dann in der Lage sein, nötigenfalls auf Dienste auszuweichen, die dem europäi­schen Recht entsprechen. Das scheint zurzeit nicht der Fall zu sein. Die Förderung von offe­nen Standards, wie es gerade bei GAIA-X pas­siert – ein Projekt mit einem futuristischen Na­men, bei dem gemeinsame Anforderungen an eine europäische Dateninfrastruktur entwickelt werden –, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Denn auf der nächsten Stufe geht es auch um die digitale Souveränität von Privatleuten und Unternehmen, die die Möglichkeit haben soll­ten, Dienste zu wechseln. Zudem handelt es sich bei »digitaler Souveränität« auch um ein Bil­dungsziel. Hier sehe ich alle – Eltern, Schulen, Universitäten, Medien – darin gefordert, digitale Mechanismen zu erklären, zu hinterfragen und dadurch eine fortschrittliche Medien- und Digi­talkompetenz zu etablieren. Und auch der Staat hat bei diesem Thema eine Bringschuld: Gesetze und Regeln aus der analogen Lebenswirklich­keit müssen auch in die digitale Welt passen.

Sie sind Landesvorsitzender der CDU in Niedersachsen. Die »Wirtschaftswoche« hat im Juli öffentlich gemacht, dass die Fraunhofer-Gesellschaft die IT-Sicherheit in der Parteien­landschaft getestet und die Parteispitzen vor gravierenden Sicherheitslücken gewarnt hatte. Mails könnten abgefangen, Daten gestohlen oder gelöscht werden – dabei sei die IT-Sicher­heit der Parteien von besonderer Bedeutung »für die Stabilität unserer Demokratie«. Sehen Sie Handlungsbedarf?

Cyberangriffe und Online-Kriminalität stel­len eine zunehmende Herausforderung für die Wirtschaft, für staatliche Behörden und leider auch für die Politik dar. Bundeswahlleiter  Georg Thiel hat erst kürzlich erklärt, er halte die Gefahr von Cyberangriffen auf die kommende Bundestagswahl für hoch. Die Behörden tref­fen dafür bereits koordinierte Vorbereitungen. Auch Cyber-Spionage bei den Parteien ist ein wichtiges Thema, das wir sehr ernst nehmen. Im Januar gab es bekanntermaßen Cyber-An­griffe beim ersten digitalen CDU-Bundespar­teitag auf die Server der Union. Die Partei war jedoch auf diesen Fall vorbereitet und konnte die Angriffe abwehren. Wir sind also als Partei durchaus mit diesem Thema befasst und wer­den weiterhin wachsam bleiben und unsere Strukturen stetig weiter verbessern.

Über Wochen und Monate hat eine Internet-Attacke den sachsen-anhaltinischen Landkreis Anhalt-Bitterfeld in der Verwaltung lahmgelegt. Wir haben ein IT-Sicherheitsge­setz, das Betreiber kritischer Infrastrukturen verpflihtet, Cyberangriffe sofort ans Bundes­amt für Sicherheit in der Informationstechnik BSI zu melden. Brauchen wir nach der Attacke auf eine Landkreis-Verwaltung auch eine Informationspfliht für die 294 Landkreise und 11 000 Kommunen in Deutschland?

Leider findet man Beispiele für Cyberangriffe inzwischen auch in Niedersachsen. Und so­bald kritische Infrastrukturen – ich spreche beispielsweise von Krankenhäusern, Wasser­werken und Verkehrsunternehmen – betroffen sind, trifft diese Meldepflicht auch jetzt schon die Kommunen, soweit sich die Betreiberinnen und Betreiber in kommunaler Trägerschaft befinden. Aber generell: Jede Meldung an das BSI ist ein Baustein zu mehr Sicherheit für uns alle. Sollte sich also zukünftig abzeichnen, dass Kommunen gezielt und gehäuft angegriffen werden, könnte es sinnvoll sein, sie in den Kreis der Meldepflichtigen aufzunehmen. Immerhin bedeutet ein mehrwöchiger Ausfall einer kom­munalen IT eine massive Einschränkung der Versorgungslage.

Herr Althusmann, wir haben begon­nen mit dem Land der Dichter und Denker. Haben Sie eine Lektüre-Empfehlung zu einem Werk, das Ihnen durch die Corona-Krise gehol­fen hat?

Da orientiere ich mich am niedersächsischen Dichter Wilhelm Raabe, der befand: »Es gehört zur Weisheit, gelegentlich ein bisschen töricht zu sein.« Damit will ich sagen, dass man über den eigenen Horizont schauen sollte und auch Expertisen »von außen« einholen darf. Deshalb empfehle ich das Buch »Schwacher Staat im Netz« von Martin Schallbruch. Der Titel klingt auf den ersten Blick staatskritisch, doch Martin Schallbruch ist ein angesehener Informatiker, der 18 Jahre lang in verschiedenen Abteilun­gen des Bundesinnenministeriums tätig war. Sein Buch ist dabei so geschrieben, dass es auch Nichtinformatikerinnen und Nichtinformatiker wie ich gut lesen können.