Wir wollen unlösbare Probleme knacken!

Dr. Heike Riel | IBM Fellow, Head of IBM Quantum Research EMEA & Africa

Dr. Heike Riel, IBM Fellow, Head of IBM Quantum Research EMEA & Africa

Fraunhofer-Magazin 2.2021

Dr. Heike Riel
© Nik Hunger/Swiss Engineering STV
Physikerin Dr. Heike Riel, 50, erlebte mit, wie der erste Quantenprozessor in der Cloud allgemein verfügbar wurde – »etwas ganz Besonderes«.

In diesen Monaten wird Technologiegeschichte geschrieben: Die Fraunhofer-Gesellschaft und IBM haben den aktuell leistungsstärksten Quantencomputer für Industrie und Forschung nach Europa
gebracht. Es ist eine Erfolgsgeschichte, in der wir gemeinsam einen Beitrag zur Zukunft der Forschung und der Wirtschaft leisten.

Wie fing es an? Ganz zu Beginn war es nur ein kleines IBM-Team von Physikern im T. J. Watson Forschungszentrum in Yorktown Heights, nördlich von New York City, das nach jahrelanger Forschungsarbeit im Jahr 2015 den ersten 5-Qubit-Prozessor im Labor präsentierte. Dieser kleine Chip hat mittlerweile eine technologische Revolution in Gang gebracht, die das Potenzial hat, die Zukunft der Computertechnik auf Jahrzehnte hinaus zu prägen. Im Mai 2016 machte IBM ebendiesen ersten Quantenprozessor in der Cloud für jedermann verfügbar. Für mich ganz persönlich war das ein Moment, in dem mir klar wurde: Hier entsteht etwas ganz Besonderes – der Start von Quantum Computing in der Cloud.

Seitdem ist viel passiert. Die eigentliche Herausforderung stand noch vor uns: einen Quantencomputer zu bauen, der Aufgaben lösen kann, die Industrien revolutionieren können, an denen aber klassische Supercomputer und Großrechner scheitern. Zu den bisher erkundeten Anwendungsbereichen gehören beispielsweise die quantenmechanische Simulation von Molekülen, die zeitnahe Berechnung von Risiken bei Investmentportfolios oder die beschleunigte Analyse von Elementarteilchenkollisionen mithilfe von KI-Tools.
Diese Aufgabe bedarf aus unserer Sichtweise des Zusammenbringens dreier mächtiger Denkweisen. Zunächst die wissenschaftliche Denkweise, die stets danach strebt, die fundamentalen Gesetzmäßigkeiten und Ursachen zu verstehen, auf denen alles gründet. Dann der Ansatz der »Roadmaps«, der einen genauen Fahrplan für die Entwicklung der Technologie und Produkte der nächsten Jahre festlegt. Und schließlich die Idee einer agilen Unternehmens- und Team-Kultur, die aus der Welt der Software entspringt und deren Ziel es ist, innerhalb eines Projekts fortlaufend Verbesserungen und Mehrwert zu generieren.

Die wissenschaftliche Denkweise ist die Quelle neuer bahnbrechender Ideen – und sie war es auch für den Quantencomputer. Hierzu brauchte es zunächst die grundsätzliche Idee und ein fundamentales Verständnis der Grundlagen, was stets verbunden ist mit hohem Risiko, aber hoffentlich auch großem Nutzen und Gewinn. Unschwer zu erraten: Das benötigt einen langen Atem. Auch beim Quantenrechner hat es schließlich fast 40 Jahre gedauert, die Idee in die Realität umzusetzen. Durch eine gute Zusammenarbeit zwischen Universitäten, Forschungseinrichtungen und der Industrie können aber auf diesem Weg vielversprechende Innovationen und wirtschaftliche Vorteile generiert werden.
Darüber hinaus ist eine klar definierte »Roadmap« für die Technologie ein essenzieller Schritt, um ein Ökosystem von unabhängigen Partnern und deren Investitionen aufzubauen und zu koordinieren. Einen gutenSchritt in diese Richtung haben wir mit unserer Entwicklungs-Roadmap zur Hard- undSoftware der IBM Quantencomputer getan.Darin zeigen wir auf, wie wir die Quantenprozessoren weiterentwickeln werden undparallel ein offenes Software-Ökosystem aufbauen wollen.

So werden wir über die nächsten drei Jahre die Anzahl der Quantenbits (Qubits) auf einem Prozessor auf über 1000 Qubits erhöhen und gleichzeitig weitere Parameter, die die Leistungsfähigkeit bestimmen, optimieren. Unser Ziel ist es, mit dem Quantencomputer stets komplexere Probleme zu lösen und den sogenannten Quantenvorteil möglichst bald zu erreichen – also zu zeigen, dass ein Quantencomputer für seine klassischen Pendants unlösbare Probleme knacken kann.

Die Vielfalt an Anwendungsmöglichkeiten, bei denen Quantencomputer die Lösung von Problemen beschleunigen oder gar erst ermöglichen könnten, ist groß. Und nur durch enge Kooperation mit Unternehmen und Forschungseinrichtungen werden wir das Potenzial der neuen Technologie ausschöpfen. Mit der Fraunhofer-Gesellschaft als weltweit führender Organisation für anwendungsorientierte Forschung steigt nun ein Schlüsselpartner ins Boot – einer, der die vitale Rolle eines Bindeglieds zwischen Wissenschaft und Industrie erfüllt. Es stimmt mich optimistisch, dass Fraunhofer mit seinem direkten Draht zur Industrie diese Phase mitgestaltet, in der die ersten Quantencomputer aus dem Labor in die Hände der Anwender aus den verschiedensten Branchen gelangen.