Mit einer Veränderung von Transportwegen rechnen langfristig 36 Prozent der Unternehmen, 27 Prozent mit einer stärkeren Diversifizierung ihrer Lieferanten. 22 Prozent planen oder erwarten zumindest Verlagerungen von Produktionsstätten oder Niederlassungen, um näher an Absatzmärkte zu rücken und Transportwege zu verkürzen. Dies sind Ergebnisse einer aktuellen weltweiten Umfrage unter den Mitgliedsunternehmen der deutschen Auslandshandelskammern.
Die Corona-Pandemie hat die globalen Lieferketten aus dem Takt gebracht und mit ihnen die international vernetzte deutsche Wirtschaft. Wo sonst Unternehmen ihre Materialien just in time für die Produktion geliefert bekamen, sorgen seit Monaten Staus von Containerschiffen, Personalmangel in der Logistikbranche und ein Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage für leere Lagerhallen, gedrosselte Produktionen und enorme Preissteigerungen. Für die exportorientierte – und stark mittelständisch geprägte – deutsche Industrie ist das Lieferkettenmanagement zu einer großen Herausforderung geworden.
Erneute Lockdowns in China – Deutschlands wichtigstem Handelspartner – sowie Verwerfungen im Welthandel aufgrund des Kriegs in der Ukraine und der Sanktionen gegen Russland rücken eine Verbesserung der Lieferketten abermals in weite Ferne.
Über handels-, industrie- und umweltpolitische Maßnahmen ließen sich die Auswirkungen der Materialknappheit und Preissteigerungen abmildern. Kurzfristig könnte die Aussetzung von Zöllen oder Strafzöllen auf bestimmte Mangelprodukte Entlastung bringen. So erhebt die Europäische Union (EU) verschiedene Antidumpingzölle auf Stahl-, Aluminium- oder Düngemittelprodukte, die derzeit in Europa Mangelware sind oder bei denen die Preise stark gestiegen sind.
Unabhängig von politischen Eingriffen sind die Unternehmen mit Hochdruck dabei, ihre Lieferketten widerstandsfähiger zu gestalten. Wie die Umfragezahlen belegen, stellen sie ihre Lieferbeziehungen und Produktionsstandorte kritisch auf den Prüfstand.
Das Netzwerk der 79 Industrie- und Handelskammern in Deutschland sowie der deutschen Auslandshandelskammern (AHK) an 140 Standorten in über 90 Ländern unterstützt Unternehmen aktiv bei dieser Neuausrichtung ihrer Lieferketten. So haben mehrere europäische Auslandshandelskammern das AHK Industrial Supplier Forum ins Leben gerufen mit dem Ziel, industrielle Lieferanten aus europäischen Ländern mit Einkäufern und Vertriebspartnern aus Deutschland zu vernetzen und so eine der größten Lieferantengemeinschaften Europas zu schaffen. Zudem fördert das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) Rohstoffkompetenzzentren, die bei mehreren AHKs in rohstoffreichen Ländern angesiedelt sind. Ziel dieser Kompetenzzentren ist es, über Chancen und Risiken in den Märkten zu informieren und die Unternehmen beim Aufbau von Geschäftsbeziehungen zu unterstützen – sei es bei der Beschaffung von Rohstoffen oder bei der Vermarktung eigener Bergbautechnologien.
Die Politik ist gefordert, durch geeignete Rahmenbedingungen die Neuausrichtung von Lieferketten zu unterstützen. So können etwa die Diversifizierung von Importquellen und der Ausbau sowie die Intensivierung von Handelspartnerschaften durch Handelsabkommen Unternehmen helfen, ihr Lieferantennetzwerk in mehrere Länder und Regionen zu verteilen. Denn: Verlässliche Handelsabkommen bauen Handelshemmnisse ab und schaffen gemeinsame Standards, dazu Rechts- und Planungssicherheit als Grundlage. Die EU könnte hierzu etwa die ausverhandelten Handelsabkommen mit dem Mercosur, dem gemeinsamen Markt Südamerikas mit Chile, Mexiko oder Neuseeland, umsetzen.
Neben handelspolitischen Maßnahmen sollte die EU auch industrie- und umweltpolitisch wichtige Impulse für die Resilienz von Lieferketten setzen. Ein Ausbau der Kreislaufwirtschaft in Deutschland und der EU kann einen Beitrag für die Sicherstellung ausreichender Rohstoffverfügbarkeit leisten. Eine vermehrte Wiederverwendung von Materialien sorgt nicht nur für weniger Emissionen, sondern auch für eine größere Unabhängigkeit bei Importen von Primärrohstoffen. Es braucht mehr Forschung und Entwicklung sowohl für Materialien, die recycelbar und damit kreislauffähig sind, als auch für den Einsatz von recycelten Materialien anstelle der Verwendung von Primärrohstoffen. Auch eine höhere Energieeffizienz in der Industrie trägt zur Abmilderung von Rohstoffknappheiten bei und bietet Raum für weitere Forschung, etwa um den Nutzungsgrad von Energieträgern zu erhöhen und mit einer Umrüstung von Maschinen energieeffizienter zu produzieren sowie die Verarbeitung alternativer Materialien möglich zu machen. Politische Maßnahmen zur Förderung von Forschungsvorhaben sowie zur Entwicklung des notwendigen Fachkräftepotenzials und zur Beseitigung von regulatorischen Hürden in diesen Bereichen würden sich hier ebenfalls positiv auswirken.
In Zeiten, in denen die Lieferketten der Unternehmen so aus dem Takt geraten sind, sorgen allerdings steigende bürokratische Anforderungen an Unternehmen, wie etwa das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, für weitere Herausforderungen. Um die Risiken in ihren Lieferketten zu überblicken, werden sich Unternehmen tendenziell auf weniger Zulieferer aus weniger Ländern beschränken, was der nötigen Diversifizierung und damit der Resilienz der Lieferketten entgegensteht.