Die effiziente Steuerung der Fertigung gehört zu den Schlüsseltechnologien in der Industrie. Da klingt die Idee, statt einer gleich zwei Fabriken parallel aufzubauen, zunächst mal nur nach doppeltem Aufwand. Was wäre aber, wenn eine der Fabriken nur in virtueller Form existierte? Auf dieser Idee basiert das Konzept aus dem Berliner Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik IPK. Die reale Produktionsstätte wird vollständig auf digitaler Ebene nachgebildet. Es entsteht ein virtueller Zwilling, der nicht nur die Produktionsanlage mit allen Maschinen visualisiert, sondern auch die dynamischen Abläufe und das Verhalten der Systembestandteile während der Fertigung in Echtzeit wiedergibt. Im virtuellen Zwilling lässt sich der Fertigungsprozess detailliert beobachten. Zahlreiche Sensoren geben dabei den Betriebsstatus der einzelnen Arbeitsstationen laufend an das System weiter. Für die Steuerung der Produktion eröffnen sich somit neue Möglichkeiten. Die Produktionsplaner können den Herstellungsprozess im virtuellen Abbild analysieren und dann gegebenenfalls einzelne Schritte optimieren oder neu organisieren.
System reagiert intelligent auf Änderungen
Das Konzept des digitalen Zwillings geht jedoch weit über ein bloßes Abbilden der realen Produktionsanlage hinaus. Tatsächlich funktioniert das System bidirektional. Denn auch auf der virtuellen Ebene kann man eingreifen und Änderungen vornehmen, die sich sofort simulieren lassen. Auch die Änderungen in der realen Anlage können in den digitalen Zwilling eingespielt werden. So könnte der Produktionsleiter beispielsweise weitere Maschinen für die Bearbeitung eines Werkstücks aktivieren oder einen zusätzlichen Arbeitsschritt einbauen, etwa wenn eine Sonderanfertigung verlangt wird. Die Fertigung muss dazu nicht gestoppt und neu konfiguriert werden, vielmehr reagiert das System intelligent auf jede Änderung und organisiert sich neu.
Reale und digitale Produktion verschmelzen
Durch die Verschmelzung von realer und digitaler Produktion entsteht ein Gesamtsystem, das sich im laufenden Betrieb selbst überwacht, steuert und korrigiert. Maschinen und Software kommunizieren, soweit erforderlich, unabhängig vom Menschen miteinander und halten so die Produktion in Gang. Sollte beispielsweise eine Störung vorkommen, wie etwa der Ausfall eines Aggregats, kann das System selbstständig entscheiden, wie das Problem zu beheben ist. Der verantwortliche Produktionsleiter sieht dann die Änderung in der Produktion, muss aber nicht selbst eingreifen.
Über den digitalen Zwilling, den die Anlage kontinuierlich mit Daten füttert, lässt sich darüber hinaus die Qualität der Werkstücke und des Endprodukts laufend kontrollieren. Auch die Produktion einer Kleinserie mit individualisierten Einzelstücken lässt sich mithilfe dieses Konzepts schnell realisieren, und zwar so, dass die Gesamtproduktion nur minimal beeinträchtigt wird. Selbst die Herstellung von Einzelstücken (Losgröße-1-Produktion) wird durch den Einsatz von Produktmodellen für die Generierung von Produktionsmodellen (z. B. NC-Code) denkbar.
Vereinfachte Inbetriebnahme neuer Produktionsanlagen
Ein weiterer Vorteil: Der virtuelle Zwilling lässt sich auch bereits bei der Konzeption und beim Bau der Produktionsanlage einsetzen. Noch bevor das erste reale Werkstück bearbeitet wird, kann man so vorab den Produktionsablauf simulieren, Schwachstellen finden und optimieren. Auf diese Weise wird die Anlage bereits vor der Produktion virtuell in Betrieb genommen und getestet. Das beschleunigt die Planung und erleichtert die Inbetriebnahme einer neuen Produktionsanlage.
Das Fraunhofer-Projekt liefert damit ein konkretes Beispiel, wie der Megatrend Industrie 4.0 funktionieren kann. Prof. Dr.-Ing. Rainer Stark, Projektleiter am Fraunhofer IPK, sagt: »Unser Ziel ist, zentrale Technologien, Prozesse und Methoden von Industrie 4.0 nicht nur zu beschreiben, sondern wirklich erlebbar zu machen.« Gemeinsam mit Industriepartnern wollen der Fraunhofer-Experte und sein Team schon bald erste Pilotprojekte zur Marktreife bringen.
Um das ambitionierte Konzept realisieren zu können, mussten die Fraunhofer-Experten eine Reihe von technischen Herausforderungen bestehen. Viele der Techniken und Anwendungen für den digitalen Zwilling waren noch nicht verfügbar, die Forscher mussten sie daher eigens entwickeln. »Wir wollen gänzlich auf proprietäre Komponenten verzichten und bei allen Schnittstellen hundertprozentig kompatibel mit Industriestandards sein. Gleichzeitig darf das System nicht zu teuer werden, die Investition soll sich schließlich für das Unternehmen schnell amortisieren«, erklärt Stark.
Kombination aus physischen und virtuellen Sensoren
Ein Highlight ist beispielsweise die verwendete Sensortechnik. Die Fraunhofer-Ingenieure nutzen eine Kombination aus physischen und virtuellen Sensoren. Dabei verarbeiten virtuelle Sensoren die Messdaten zu komplexen Reports über den Status der Anlage. Ein technisches Kernstück ist beispielsweise die Datenübertragung – sie ist innerhalb der Produktionsanlage und zum Kontrollzentrum hybrid ausgelegt. Es kommen also sowohl klassische Funkstandards wie WLAN und LTE als auch Industriestandards wie EtherCAT zum Einsatz.
Die Technik lässt sich beliebig skalieren. Sie ist in der Lage, einzelne Anlagen zu steuern, könnte aber auch eine ganze Fabrik überwachen. Die Grenzen liegen hier nur in der Rechnerleistung und den Netzwerkkapazitäten. Eine gewisse Einschränkung ist auch der jeweils nötige Aufwand bei der Modellierung und der Detailtreue beziehungsweise Granularität des digitalen Zwillings.
Bleibt die Frage nach der Sicherheit. Auch daran haben die Techniker gedacht. Das ganze System bewegt sich innerhalb eines separaten internen Netzwerks, das durch eine Firewall und streng kontrollierte Freigabe einzelner Ports geschützt wird.
Wie das System funktioniert, demonstriert das IPK am 9. Februar auf der Hannover Messe Preview und vom 24. bis 28. April auf der Hannover Messe (Halle 17). Gezeigt wird dabei eine Anlage zur Produktion von Getränkeuntersetzern, die jeweils individualisiert angefertigt werden.