»Fraunhofer ist immer Teil meiner DNA« - Prof. Dr.-Ing. Ingomar Kelbassa im Interview

Prof. Dr.-Ing. Ingomar Kelbassa kehr als ILT-Alumnus nach erfolgreicher Karriere bei Siemens wieder zur Fraunhofer-Gesellschaft zurück.
© Fraunhofer ILT
Prof. Dr.-Ing. Ingomar Kelbassa kehr als ILT-Alumnus nach erfolgreicher Karriere bei Siemens wieder zur Fraunhofer-Gesellschaft zurück.

Prof. Dr. Ingomar Kelbassa wirkte mehrere Jahre in Aachen. Er war stellvertretender Leiter des Lehrstuhls für Lasertechnik LLT der RWTH und Abteilungsleiter am Fraunhofer-Institut für Lasertechnik ILT. 2016 wechselte er zu Siemens. Dort verantwortete er zuletzt als Geschäftsführer die Siemens-Tochter WEISS Spindeltechnologie und leitete den Forschungs-Campus »Werner-von-Siemens Centre for Industry and Science« in Berlin. Anfang April 2022 kehrt der ILT-Alumnus zur Fraunhofer-Gesellschaft zurück – als Institutsleiter der Fraunhofer-Einrichtung für Additive Produktionstechnologien IAPT.
»Rückkehr« ist aber für den Maschinenbauer »das falsche Wort«. Er habe sich Fraunhofer stets verbunden gefühlt und auch Forschung und Entwicklung war während der sechs Jahre in der freien Wirtschaft das zentrale Themenfeld für den studierten Maschinenbauer.
Nun will er Additive Manufacturing (AM) am IAPT abseits bekannter Pfade weiter industrialisieren. Trotz des Umzugs von Dortmund nach Hamburg werde er aber als eingefleischter Fan Vereinsmitglied und Aktionär der Borussen bleiben.

 
 

Sie haben lange an der RWTH Aachen und am Fraunhofer ILT gewirkt, auch in leitenden Positionen. Was hat Sie bewogen, in die Industrie zu wechseln?

Es war vor allem Neugier. Zu dem Zeitpunkt hatte ich im Wissenschaftsbereich schon viele Erfahrungen gemacht. Es war für mich die Frage »Kann ich im industriellen Umfeld erfolgreich sein und kann ich mich dort auch behaupten?« Schließlich wagte ich 2016 den Schritt zu Siemens. Dort leitete ich unter anderem die Fertigungstechnologieentwicklung des Bereichs »Gas and Power« sowie geschäftsfeldübergreifend die »Company Core Technology Additive Manufacturing« der gesamten Siemens AG.

Als außerordentlicher Professor des Melbourne Institute of Technology und als Leiter des »Werner-von-Siemens Centre for Industry and Science« in Berlin standen Sie stets in Kontakt mit der Wissenschaft. Wie wichtig ist für Sie der Austausch zwischen Industrie und Forschung?

Dieser Austausch ist Kern jeder anwendungsorientierten Forschung und Entwicklung. Ohne produktgetriebene Industrie und ohne darauf basierender, bedarfsorientierter FuE ist aus meiner Sicht mittelfristig keine Wertschöpfung möglich. Wir leisten also einen Beitrag zur Volkswirtschaft und damit zu unserem Wohlstand. Ich sehe die Fraunhofer-Gesellschaft als Enabler für die deutsche Wirtschaft. Als Institutsleiter des Fraunhofer IAPT möchte ich diesen Austausch weiter intensivieren.

Können für diesen Dialog auch Alumni-Netzwerke eine Rolle spielen?

An der Schnittstelle zwischen Industrie und angewandter Forschung entsteht oft Reibung. Wo Reibung ist, entsteht auch Wärme, es kann Neues entstehen. Wir sollten die Expertise der ehemaligen Mitarbeitenden nutzen, um in einen wissenschaftlich geprägten Austausch zu treten und zuzuhören, was Industriekunden und Bedarfsträger wirklich benötigen. Man neigt dazu, die eigenen Kompetenzen hervorzuheben. Aber es ist die Frage, ob die Industrie nicht vor anderen Herausforderungen steht. In einem Alumni-Netzwerk, in dem hochrangige Expertinnen und Experten aus der Wirtschaft versammelt sind, könnte man das gut moderieren. Bei der Fraunhofer-Gesellschaft existieren beratende Kuratorien. Darüber hinaus könnten wir Alumni bei überkritischen Themen zurate ziehen und uns auf diese Weise rückversichern, ob sich unsere Kompetenzen mit dem decken, was die Bedarfsträger benötigen.

Sie waren Fachbereichsleiter für »Company Core Technology Additive Manufacturing« der Siemens AG und zuletzt CEO der Siemens-Tochter WEISS Spindeltechnologie. Jetzt kehren Sie als Alumnus zu einer Organisation zurück, die wie keine andere in Europa für anwendungsorientierte Forschung steht. Was motivierte Sie zu dieser Entscheidung?

Ich war 16 Jahre bei Fraunhofer. Diese grüne DNA ist nach wie vor ein Teil von mir. Siemens hat ebenfalls Grün im Logo und der Claim lautet »Ingenuity for Life«. Doch nicht nur deshalb fühlt es sich so an, als ob ich Fraunhofer geistig nie verlassen hätte. Bei Siemens startete ich als Leiter der Fertigungstechnologieentwicklung für PG (Power Generation – später Power and Gas) und erlebte den Bereich Entwicklung aus einer anderen Sicht. Das gilt auch für meine Rolle als Leiter des Berliner Siemens Centre. Dort kommen die FuE-Partner an den Ort der Produktion – spiegelbildlich etwa zu einem RWTH Aachen Campus, wo sich Industriepartner am Ort der FuE immatrikulieren. Eine Weiterentwicklung am Siemens-Campus lässt sich in diesem Konzept ohne Umwege schnell und effektiv in die Wertschöpfung überführen. Wenn Sie so wollen, veredelte ich in der Zeit in der Industrie meine »grüne Fraunhofer-DNA«.

Wie können wir als Fraunhofer-Gesellschaft helfen, die Herausforderungen der Unternehmen zu meistern?

Um verstehen zu können, was Kunden antreibt, was deren Herausforderungen sind, muss man sich in deren Position hineinversetzen können. Die sechs Jahre bei Siemens schärften auf jeden Fall mein Verständnis für die Industrie. Dank meiner Erfahrungen der zurückliegenden Jahre wage ich die Behauptung, die Sprachen der Wissenschaft, der Industrie und der Politik sprechen zu können. Diese drei auf einen Nenner zu bringen, halte ich für sehr wichtig. Jetzt, da ich das Vokabular dieser drei Sprachen beherrsche, bin ich überzeugt, für Fraunhofer und letztlich für unsere Volkswirtschaft einen größeren Beitrag leisten zu können, als das vor meinem Weggang der Fall war.
Ein weiterer Grund: Erlebt man zweimal in sechs Jahren einen Interessenausgleich, geht das nicht spurlos an einem vorüber, auch wenn man nicht direkt betroffen ist. Hinter jeder abgebauten Stelle steht eine Familie. Ich würde gerne wieder mit einem Lächeln in die Arbeit gehen und in den Spiegel blicken. Ich glaube schlicht und einfach daran, dass ich mit meinem Team Erfolge feiern UND Spaß haben kann.

Sind Sie Fraunhofer in besonderer Weise verbunden?

Ich habe Fraunhofer viel zu verdanken und das möchte ich jetzt auch wieder zurückgeben. Ohne die Erfahrungen, die ich am ILT sammeln durfte, wäre mein Einstieg in der Industrie ein anderer gewesen. Es ist nicht unbedingt Standard, bei Siemens als Quereinsteiger in der Führungsebene anzufangen.

Sie haben beide Welten kennenlernen dürfen. Was sind die wichtigsten Unterschiede?

Es gibt natürlich sehr große Unterschiede, aber auch Parallelen. Beiden Organisationen sind eine große Struktur und eine zentrale Verwaltung gemein. Siemens verfolgt als Konzern und damit auch mit mittelständisch geprägten Tochterunternehmen wie der WEISS Spindeltechnologie GmbH dedizierte Gewinnerzielungsabsichten. Fraunhofer dagegen ist ein gemeinnütziger Verein mit der Mission, die deutsche Forschung und Wirtschaft zu stärken. Im Alltag allerdings sehe ich tatsächlich viele Parallelen.

Aber auch die einzelnen Organisationen der Fraunhofer-Gesellschaft müssen sich refinanzieren.


Das Rho-Wi, also das Verhältnis von Wirtschaftserträgen zum Aufwand im Leistungsbereich Vertragsforschung, ist eine gute Messgröße für die Industrierelevanz eines Instituts. In der Regel liegt dieser Wert in Relation zum Betriebshaushalt zwischen 40 und 50 Prozent. Ist dieser Wert nahe Null, kann man eine Organisation wählen, die zu 100 Prozent grundfinanziert ist und Grundlagenforschung betreibt. Aber genau das möchte ich nicht. In Industrieaufträgen lässt sich daher gut die eigene Relevanz ablesen. Das ist auch am IAPT ein entscheidendes To-do: In meiner bisherigen Tätigkeit hätte ich von profitablem Wachstum gesprochen. Mein Ziel am IAPT ist industrierelevantes, nachhaltiges Wachstum.

Wie ist Fraunhofer beim Thema Additive Manufacturing aufgestellt?

Fraunhofer hat im Bereich AM viel zu bieten und geht davon aus, mit genau diesen Kompetenzen die Industrialisierung von AM bestmöglich zu unterstützen. Ich lernte aber, dass es für Unternehmen zunächst von sekundärer Bedeutung ist, ob bspw. eine Multimaterial-Anwendung für AM existiert. Mit Materialien, die für Unternehmen interessant sind, können diese heute umgehen. Die Industrie steht heute meines Erachtens vor anderen Herausforderungen.An welchen Stellen sehen Sie die größten Handlungsbedarfe?

Ich sehe mehrere Bereiche, die allesamt Industrie-getriggert sind. Projekte, die sich darauf konzentrieren, die Druckgeschwindigkeit zu erhöhen, sind sehr spannend. Aber der eigentliche 3D-Druck macht in der Regel 20 Prozent des gesamten Herstellungsprozesses aus. Warum konzentrieren wir uns nicht auf diese 80 Prozent, anstatt die 20 Prozent zu optimieren, wo wir einen deutlich kleineren Hebel haben?

Mein erster Ansatz ist eine virtuelle Darstellung der gesamten Prozesskette. Darüber hinaus benötigt die Industrie ein durchgängiges Datenformat, das vom CAD-Modell bis zum fertigen Endprodukt reicht. Im industriellen Kontext ist das eigentliche Drucken des Werkstücks wie gesagt nur ein Prozessschritt von vielen. Das Bauteil muss von der Bauplattform getrennt werden, muss entpulvert werden, muss wärme- und/oder oberflächenbehandelt werden etc. Dafür benötigt man unterschiedliche Maschinen und die sprechen unterschiedliche Sprachen. Stand heute muss der gesamte Datensatz in einer Prozesskette der additiven Fertigung sechs bis acht Mal manuell konvertiert werden. Das ist nicht nur arbeits-, zeit- und ergo kostenintensiv, sondern bei jeder Konvertierung gehen auch Informationen verloren.

Warum kümmern wir uns als Fraunhofer-Gesellschaft nicht darum, ein durchgängiges, einheitliches Datenformat zu schaffen?

Ich nenne es mal »mp3 für AM«. Mir geht es an der Stelle nicht um Musikkompression, sondern um ein AM-Datenformat, das in unterschiedlichen Prozessschritten nicht mehr angefasst werden muss.
Bis heute verfügen wir nicht über MES-Lösungen (Manufacturing Execution System), also Fertigungs- oder Produktionsleitsysteme, inklusive SCADA- oder ERP-Systeme, die 3D-Druck unterstützen. 3D-Drucksysteme sind nach wie vor meist in Insellösungen angesiedelt, ohne Anbindung an Prozessketten. Weder für neue Produktionslinien noch für bestehende Produktionsstraßen liegen entsprechende Konzepte für die Linienintegration von 3D-Druck vor.
Ein weiteres Thema ist Standardisierung: Die meisten Hersteller von Druckern kommen nicht aus dem Maschinenbau. Selbst bei Modellen eines Herstellers bekommen sie im identischen Prozess unterschiedliche Ergebnisse. Im klassischen Werkzeugmaschinenbau wäre so etwas undenkbar.

In den vergangenen Jahren konnte man aber auch viele Standardisierungs-Engagements sehen, die sich nicht durchsetzen konnten.

Die Standardisierung auf ein Format durchzusetzen, benötigt viel Energie, wie bei der CD oder Blu-ray zu beobachten war. Aber wir sprechen von generischen Themen. Es geht nicht um Detailfragen wie Bauteile oder Maschinen, sondern um Themen, die die gesamte Prozesskette generisch adressieren. Für die Verwertungsstrategie einer Lizenzierung ist es für Fraunhofer unerheblich, wer die Endanwender sind oder welcher Maschinen-OEM diesen Standard nutzt – solange sich alle auf dieses Datenformat einigen, wie eben beim Beispiel der mp3.
Ich komme noch einmal darauf zurück, wie ich Fraunhofer begreife: als Enabler für die Wertschöpfung in Deutschland. Bei Steuerungsanlagen für Produktionsumgebungen sehe ich hierzulande zwei bis drei große Hersteller. Wenn man gemeinsam mit einem starken Industriepartner als Fraunhofer solch einen Standard umsetzt, hätte man aufgrund der hohen Marktdurchdringung gute Chancen, diesen etablieren zu können. Natürlich muss dieses Format auch unterstützen, was bei der Industrie bereits im Einsatz ist.

Das IAPT steht aktuell nicht in erster Linie für Software-Lösungen.

Das ist genau einer der Punkte, an denen ich ansetzen möchte. Ich bin nicht als neuer IL angetreten, um fortzuführen, was bereits die zurückliegenden 10 Jahre umgesetzt wurde. Ich plane mit neuen Stellen für Software-Ingenieurinnen und Ingenieure sowie mit Informatikerinnen und Informatikern. Unseren Job als Fraunhofer sehe ich in dem Beitrag, den eine produktorientierte Industrie selbst nicht leisten kann. Aber natürlich werde ich auch andere Schwerpunkte verfolgen. Projekte, die neue Materialien erforschen oder den Druck als solchen beschleunigen, will ich nicht in Abrede stellen. Aber mir scheint jetzt die Zeit gekommen zu sein, mit komplementären, von der Industrie getriggerten Ideen diese Technologien zu vervollständigen. Welche Organisation oder welches Unternehmen letztlich die Wertschöpfung mit den von uns entwickelten Lösungen hebt, kann und darf die Entscheidungsfindung erst einmal nicht beeinflussen.

Wie sehen Sie Ihre Rolle als Institutsleiter des IAPT?

Für mich persönlich sehe ich den Schwerpunkt nicht nur in der FuE, sondern auch in der Rolle als Mittler und Orchestrator, der Fraunhofer-seitig in Zusammenarbeit mit dem Verbund und der Allianz als Dolmetscher fungiert. Speziell dann, wenn es um Dialoge mit der Industrie geht. Der Charme des IAPT ist, dass dieser in aller Kürze von mir skizzierte Industrialisierungsbedarf gekoppelt ist an das Prozessdomänen-Know-how, das man am IAPT aufgrund der Historie ohnehin zur Verfügung hat. Das Ziel ist, Probleme, die die Industrie umtreiben, auszuräumen und langfristig dafür zu sorgen, dass 3D-Druck im großen Stil industriell eingesetzt wird.

Deutschland, die Welt und natürlich auch die Fraunhofer-Gesellschaft stehen – jenseits von AM – vor vielen großen Fragestellungen. Welche liegen Ihnen dabei besonders am Herzen?

Das sind der Energie- und Klimawandel. Hier ist Fraunhofer sehr gut aufgestellt, um wirklich bedeutende Beiträge zu liefern. Solange ein Großteil der fossilen und nuklearen Primärenergieerzeugung dafür genutzt wird, Wärme für Haushalte oder für die Industrie herzustellen, werden wir mit Hilfe von Windkraft, Wasserkraft und Photovoltaik unsere Klimaziele vermutlich nicht erreichen können. Hinzu kommt, dass wir durch Elektromobilität den Stromverbrauch zusätzlich erhöhen.
Es müssen clevere Ideen her, um den Wärmebedarf der Haushalte und den Prozesswärmebedarf der Industrie nicht nur grün zu bekommen, sondern diesen auch zuverlässig bereit zu stellen. Der Ausbau der Wasserstoffwirtschaft könnte einen guten Weg darstellen.