Etwa 1,6 Millionen Tonnen konventionelle und 220 000 Tonnen chemische Kampfmittel, so die aktuellen Schätzungen, lagern am Grund von Nord- und Ostsee und rotten seit Jahrzehnten vor sich hin – ein enormes Gefahrenpotenzial für Flora und Fauna wie auch für das Bergungspersonal. Immer häufiger werden diese explosiven Hinterlassenschaften der Kriege zum Problem. Denn die Baustellen auf dem Meer nehmen zu, neue Fahrrinnen müssen freigelegt, Pipelines gebaut, Seekabel für die Landanbindung von Windparks verlegt werden. Das Waffenarsenal, das die Kampfmittelräumdienste aufspüren, reicht von Pistolenpatronen und Panzerfäusten über Seeminen, Sprengbomben, Brandbomben und Torpedos bis hin zu Giftgasgranaten. Der Großteil der explosiven Fracht wurde am Ende des zweiten Weltkriegs im Meer versenkt. Fischer sollten im Auftrag der Alliierten die Kampfmittel in ausgewiesenen Gebieten weit draußen auf See verklappen. Doch offensichtlich kippten einige die Fracht viel früher ins Meer, um Treibstoff zu sparen. Daher befindet sich auch außerhalb der markierten Munitionsgebiete viel Munition. Zudem werden alte Minen, Torpedos und Bomben durch starke Strömungen und Grundschleppfischerei umgelagert.
Minen in Schifffahrtsrinnen
So müssen die Taucher des Kampfmittelräumdienstes immer wieder auch Munition aus Fahrrinnen räumen, die als minenfrei galten. Dank empfindlicher Sonartechnik und Magnetsonden kann der Kriegsschrott inzwischen besser aufgespürt werden – und umso mehr Bomben, Granaten und Minen werden entdeckt. Die Räumung ist aber bisher nur in gefährlicher Handarbeit durch Taucher der Kampfmittelräumdienste oder spezialisierter Firmen möglich. Große Bomben können nicht geborgen werden: Oft reicht die Druckveränderung schon aus, dass sie explodieren. Deshalb verlagert man sie in die bekannten Munitionsgebiete oder sprengt sie vor Ort. Dabei verteilt sich aber ein Teil des giftigen Sprengstoffs weiträumig im Wasser. Außerdem können durch eine Explosion Meereslebewesen wie z. B. Schweinswale oder Fische tödlich verletzt werden.
Für die Beseitigung großer Mengen des explosiven Kriegserbes sind neue umweltschonende, ungefährliche und wirtschaftliche Lösungen gefragt. So entwickeln, gefördert vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Forscher des Fraunhofer-Instituts für Chemische Technologie ICT in Pfinztal gemeinsam mit der Universität Leipzig und mehreren Industriepartnern ein »Robotisches Unterwasser-Bergungs- und Entsorgungsverfahren inklusive Technik zur Delaboration von Munition im Meer«, kurz RoBEMM. Die Koordination des Vorhabens hat das Kampfmittelräumunternehmen Heinrich Hirdes EOD Services GmbH übernommen. »Langfristiges Ziel des Projektes ist es«, erklärt Paul Müller vom Fraunhofer ICT, »die Munition bereits direkt am Fundort unter Wasser teilautomatisiert unschädlich zu machen und umweltgerecht zu entsorgen.« Für die Automatisierung und Anbindung der Teilkomponenten ist die automatic Klein GmbH zuständig.
Das Fraunhofer ICT bringt seine Kernkompetenz in der sicherheitstechnischen Betrachtung und Charakterisierung von Gefahrstoffen ein. Aufgabe war, die Handhabung mit den Explosivstoffen in allen Prozessschritten so auszulegen, dass das unvermeidliche Restrisiko einer spontanen Explosion minimiert wird. Das reicht vom Munitionshandling über die Zerlegung bis hin zur Sprengstoffvernichtung und Reststoffbehandlung. Wichtiges Element ist das Herabsetzen der Empfindlichkeit des Sprengstoffs durch die Zugabe von Wasser und die anschließende Zerkleinerung. Dann werden die Metallhülsen gereinigt und der Sprengstoff wird verbrannt, so dass nur Metallschrott an Land gebracht wird.
Jede Bombe ist anders
Selbst nach mehr als 70 Jahren sind die Kampfstoffe gefährlich. Der Sprengstoff kann nach wie vor explodieren, die Abbaustoffe sind hochgiftig. Die Forscherinnen und Forscher am Fraunhofer ICT haben beispielsweise festgestellt, dass die Schlagempfindlichkeit der Explosivstoffe sogar erhöht sein kann. Um eine spontane Detonation zu vermeiden, muss beim Handling größte Vorsicht gewährleistet sein. Ein großes Problem sind die extrem unterschiedlichen Munitionsformate. Am Ende des Krieges wurden für die Herstellung von Munition alle noch verfügbaren Materialien verwendet. Daher weiß man nie wirklich, welche Inhaltsstoffe vorhanden sind und wie sie unter Umständen plötzlich miteinander reagieren. »Aus den sicherheitstechnischen Untersuchungen der damals tatsächlich verwendeten Explosivstoffgemische konnten wir ableiten, was beim Handling zu beachten ist«, sagt der Sicherheitsexperte Paul Müller. Bald beginnen erste Tests mit dem neuen Bergungs- und Entsorgungssystem RoBEMM, das die derzeit gefährlichen Tauchereinsätze und die oftmals alternativlosen Sprengungen der Munition ersetzen kann.