»Die Frage nach Vereinbarkeit« - Prof. Dr. Lydia Kaiser im Interview

© TU Berlin | Christian Kielmann
Prof. Dr. Lydia Kaiser ist Professorin für Digitales Engineering 4.0 an der Technischen Universität Berlin und am Einstein Center Digital Future. Bis 2021 leitete die Physikerin die Abteilung Systems Engineering am Fraunhofer IEM in Paderborn.

Eine Professur für ‘Digitales Engineering 4.0’ an der Technischen Universität Berlin und dem Einstein Center Digital Future, Mitglied im Digitalrat des Verteidigungsministeriums und als eine der wichtigsten Expertinnen für Systems Engineering tritt sie auf zahlreichen Konferenzen als Sprecherin auf: Professor Dr. Lydia Kaiser absolviert ein sehr dichtes berufliches Programm. Dennoch schafft es die dreifache Mutter für ihre Kinder da zu sein. In dieser Doppelrolle kämpft sie dafür, dass sich »Frauen die Frage nach der Vereinbarkeit« nicht mehr stellen müssen. Für dieses Engagement wurde die Wissenschaftlerin und Fraunhofer-IEM-Alumna 2022 mit dem Felicitas Award in der Kategorie »Vorbild sein. #InspireAsRolemodel« geehrt. Sie ist nach Mai Thi Nguyen-Kim im Jahr 2021 damit die zweite Fraunhofer-Alumna, die diese Auszeichnung gewann. Das freut uns ganz besonders. 

 

Sehr geehrte Frau Kaiser, sie absolvieren beruflich ein beeindruckendes Pensum und machen sich für eine familienfreundlichere Berufswelt stark. Wie meistern Sie ihren Alltag?

Mein wissenschaftliches Thema ist das systemische Denken. Das hilft, mein familiäres Umfeld, meinen Beruf als Ganzes zu verstehen: Was sind meine Ziele? Wie kann ich diese erreichen? Wie kann ich beiden Ansprüchen Genüge tun?

Kürzlich wurde ich von der Frage überrascht, Sie sind ja heute hier unterwegs, sind Ihre drei Kinder allein? Natürlich sind sie das nicht! Sie haben einen liebevollen Vater und liebevolle Großeltern. Sowohl für meine Kinder wie auch für Oma und Opa ist es sehr wertvoll, wenn Sie gemeinsam Zeit verbringen können. Natürlich bin ich häufig beschäftigt oder unterwegs. Zeit, die ich mit meinen Kindern verbringe, muss daher hochqualitativ sein. Ich nehme mir sehr bewusst Zeit und erledige nicht parallel irgendwelche anfallenden Aufgaben. Und wenn doch, dann gemeinsam mit meinen Kindern. Trotz dieser vielfältigen Aufgaben bin ich ausgeglichener, wenn ich ausleben kann, was mich inhaltlich bewegt.

Wir erreichen Sie heute per Video-Call im Homeoffice. Welche Chancen sehen Sie in digitalen Werkzeugen?

Natürlich haben wir dadurch neue Möglichkeiten und einen höheren Grad der Teilhabe, der Sichtbarkeit und der Flexibilität. Eine Kollegin aus dem Fraunhofer-Umfeld berichtete mir, dass sie dank solcher Tools an Konferenzen teilnehmen kann und so als Expertin wahrgenommen wird. Ohne diese Möglichkeiten wäre eine Wissenschaftlerin wie Sie ein Stück weit ausgeschlossen, weil mit Kindern und Familie solche Engagements organisatorisch nicht umzusetzen sind.

Auf der anderen Seite sorgen virtuelle Meetings für zusätzlichen Organisationsaufwand: Es stellen sich Fragen wie: ‘bin ich vor Ort? ’, ‘nehme ich virtuell teil? ’, ‘wie ist die Internetverbindung? ’ Persönlich genieße ich den Luxus der Kinderbetreuung durch Angehörige und kann meine Aufmerksamkeit Inhalten widmen. Auch aus eigener Erfahrung kenne ich Situationen, bei denen man gedanklich nicht zu 100 Prozent bei der Sache ist, etwa weil ein Kind gerade etwas braucht. Trotz Home-Office und anderen digitalen Tools kann sich so für Frauen eine Doppelbelastung ergeben: Man kann an einer Konferenz teilnehmen, muss aber gleichzeitig die Betreuung stemmen.

Eingangs erklärten Sie, auch privat von der Expertise ihres Fachbereichs zu profitieren. Was versteht man unter »Systems Engineering«?  

Wir beschäftigen uns mit technischen Systemen oder Produkten. Das tun wir systematisch, also in einer bestimmten Abfolge aber auch systemisch. Systemisch bedeutet in einer ganzheitlichen Betrachtungsweise und das umfasst alle Stakeholder, alle Sichten. Wir betrachten nicht nur die Nutzungsphase, sondern auch wie das Produkt am Ende recycelt wird. Damit Punkte wie Kosten und Sicherheit, die Produkte heute komplex machen, nicht in einem nachgelagerten Prozess eingearbeitet werden müssen, denken wir solche Aspekte frühzeitig im Design. Während der Konzeptionierungsphase werden in der Regel 70 Prozent der Kosten festgelegt. Tatsächlich entstehen solche Kosten jedoch erst gegen Ende eines Projektes. Wir treffen also in sehr frühen Stadien Entscheidungen, die große Auswirkungen haben. Dafür nutzen wir digitale Technologien, um Dinge oder Konzepte zu visualisieren. Ohne digitale Tools kann man das erst zu einem späteren Zeitpunkt mit Hardware umsetzen. Digitalisierung unterstützt uns zudem in der Gestaltung von Produkten.

© Fraunhofer IEM | Wolfram Schroll
Beim Systems Engineering, dem Fachgebiet von Lydia Kaiser (links im Bild), werden Produkte oder Prozesse aus vielen verschiedenen Blickwinkeln und in einem transdiziplinären Ansatz betrachtet.

Welchem klassischen universitären Fachgebiet würden Sie ihr Gebiet zurechnen?

Wir sprechen heute nicht mehr von interdisziplinären, sondern von transdiziplinären Ansätzen. Wir verfolgen bewusst einen integrativen Ansatz, um Silos aufzubrechen. Das ist jedoch nicht einfach zu bewerkstelligen. In Unternehmen existieren Silos etwa in Form von Abteilungen oder unterschiedlichen Zielen. An der Universität gibt es ebenfalls »Bereiche«. Mein Schwerpunkt behandelt technische Produkte für die wir unter anderem Maschinenbauer, Elektrotechniker, Software-Entwickler, Psychologen und Soziologen für die Gestaltung neuer Prozesse oder Produkte benötigen. Eine Zuordnung zu einzelnen Fakultäten ist da in gewisser Weise hinderlich.

Interdisziplinarität begegnet uns heute in vielen Lebensbereichen. Bleiben wir bei der Wissensvermittlung und gehen noch einen Schritt zurück: Bereitet das Bildungssystem Schülerinnen und Schüler auf diese neuen Anforderungen adäquat vor?

Das ist aus meiner Sicht ein wunder Punkt. Tatsächlich sehe ich darin, was und wie wir unterrichten, oder auch wie Ferien gestaltet sind, überkommene Strukturen, die bei der Entwicklung unserer Kinder hinderlich sind. Auch in der Schule begegnen wir Silo-Denken: Erst gibt es 45 Minuten Mathe, dann Geschichte, größere Zusammenhänge sind nicht Teil des Unterrichts. Ein weiterer Schwachpunkt ist die Bewertung: Man wird nicht darauf trainiert, maximalen Lernerfolg zu haben, sondern jemandem zu gefallen und so gute Noten zu erhalten. Das zieht sich bis zur Universität durch. Ich erlebe immer wieder Studentinnen und Studenten, die fragen, wie etwas bewertet wird, worauf besonders geachtet wird und entsprechend optimieren sich die Studierenden.

Die Zensur steht im Mittelpunkt und nicht, was man lernen könnte?

Ich hatte kürzlich eine Berliner Klasse zu Gast, der ich die Aufgabe gab, die Schule der Zukunft zu gestalten. Kinder und Jugendlich habe großartige Ideen. Nur leider werden sie nicht gefragt und erhalten keine Gestaltungsmöglichkeit. Eine reine Wissensvermittlung kann nicht mehr das Ziel sein. So löst man heute keine Probleme mehr. Kinder müssen lernen, mit dem Informationsüberfluss umzugehen. Sie benötigen Werkzeuge und gute Quellen, um selbst Wissen aufzubauen.

© Fraunhofer IEM | Wolfram Schroll
Digitale Werkzeuge wie Augmented Reality spielen in der Konzeptionierung aber auch bei der Gestaltung von Produkten eine große Rolle im Systems Engineering. Vieles von dem, was am IEM in der Gruppe Systems Engineering erarbeitet wurde, gibt Lydia Kaiser heute als Professorin an Studierende weiter.

Bleiben wir bei den Werkzeugen: mit Künstlicher Intelligenz kommt ein weiterer Aspekt hinzu.

Das Thema Bildung wird sich durch KI (Künstliche Intelligenz) sehr stark verändern, wir werden umdenken müssen. Natürlich machen solche Tools sehr viel möglich, aber wir sollten diese Entwicklung kritisch hinterfragen. Nehmen wir Abschlussarbeiten, die textbasiert sind. Wenn wir Textgeneratoren in unser Arbeiten mit übernehmen, könnten wir auch einen Schritt weiter gehen und diese Arbeiten von Maschinen bewerten lassen. Für mich ist das eine absurde Vorstellung, wo bringt uns das hin? Wir sollten uns fragen, was wir von den Studierenden wollen? Ist es Text? Oder sollten wir diese Technologie produktiv in die Lehre integrieren? Ein Verbot – etwa von Textgenerierungstools – im universitären Umfeld wird nicht umzusetzen sein. Ein „weiter so“, ist ebenfalls zum Scheitern verurteilt. Wir müssen tatsächlich die Lehre an der Universität neu denken.

Für meinen Fachbereich bieten solche Werkzeuge auch neue Chancen. Bei der Konzeptionierung eines Projektes fragen wir uns, ‘welche Anforderungen fallen an? ’, ‘was sind mögliche Szenarien? ’ Eine KI könnte hier wie ein zusätzlicher Kollege agieren, den man zu einem Projekt hinzuzieht. Wir wollen das künftig nutzen und auch gemeinsam mit den Studierenden in Projekten einsetzen. Da werden sicherlich spannende Vorschläge kommen.

Wie könnte das aussehen?

Ganz besonders bei Interdisziplinären Arbeitsweisen sehe ich durch KI und andere Tools viele neue technische Möglichkeiten. Methoden, Werkzeuge und Ansätze entwickelten wir basierend auf dem damaligen Stand. Wenn wir das »auf Neu« denken und prüfen, was die Bedarfe sind oder wie wir Kommunikation optimieren, ergeben sich neue Perspektiven. Ein Beispiel ist das Multitouch-Display, bei denen mehrere Personen an einem Bildschirm arbeiten. Bei Meetings können Teams vor Ort gemeinsam mit Online-Teilnehmenden produktiv arbeiten. Wir müssen dies noch stärker in die Produktgestaltung führen, derzeit sind da die Anwendungen noch zu starr. 

In der frühen Entwicklungs- oder Konzeptionierungsphase, in der Fragen wie: ‘wo wollen wir das Produkt einsetzen? ’, ‘wer sind die Stakeholder?’ beantwortet werden, ist Kreativität und auch das Zusammenbringen verschiedener Perspektiven wichtig. Es gibt nicht eine Person, die Dinge vorgibt, sondern man muss verschiedene Expertinnen und Experten zu unterschiedlichen Themen an einen Tisch bringen, die verschiedene (Fach)-Sprachen sprechen, unterschiedlich denken oder andere Prioritäten setzen. Damit aber am Ende ein gutes Produkt steht, benötigen wir diese Vielfalt an Perspektiven. Ich bin davon überzeugt, dass uns KI als zusätzliches Werkzeug helfen kann.

Wie wird sich Ihrer Meinung nach KI auf unser Arbeitswelt auswirken?  

Es wird eine Verschiebung geben, analog zu den Technologiesprüngen, die wir in der Vergangenheit sahen. Bestimmte Jobs fielen weg, andere sind neu entstanden. Meine Hoffnung ist, dass wir freiwerdende Kapazitäten an anderer Stelle wertvoll und wertschöpfend in unsere Gesellschaft integrieren können, angesichts des starken Fachkräftemangels und der Vielzahl wichtiger Aufgaben. Wir sollten uns aber vor allem darauf besinnen, dass wir Menschen sind, und das Soziale nicht vergessen. Wir sollten KI nicht verteufeln oder zu sehr hypen, aber wir müssen als Gesellschaft verstehen und lernen, damit umzugehen und uns neue Konzepte überlegen. Aber selbst das fällt uns schwer.

© Privat
Lydia Kaiser ist Leiterin des Fachgebiets Digitales Engineerin 4.0 an der Technischen Universität Berlin und dem Einstein Center Digital Future. Seit 2021 ist sie Mitglied im Digitalrat des Bundesministeriums der Verteidigung. Sie sagt heute von sich: »Ich bin dreifache Mutter und bis vor ein paar Jahren war es für mich unvorstellbar eine Professur und meine Kinder unter einen Hut zu bringen, es wird aber klappen! Ich wünsche mir, dass wir die Art und Weise wie wir arbeiten verändern, damit sich Frauen nach mir die Frage nach Vereinbarkeit nicht mehr stellen müssen. Ich möchte mit dieser Doppelrolle auch ein Vorbild für andere Frauen in der Wissenschaft sein und sie ermutigen, es mir gleich zu tun.«

Wie haben Sie die rund 9 Jahre bei Fraunhofer erlebt und welche Rolle spielt das IEM heute noch für Sie?

Ich war von Anfang an beim Fraunhofer IEM, schon als wir 2011 als Projektgruppe des Fraunhofer IPT in Paderborn gestartet sind. In dieser Zeit wurde das Institut aufgebaut. Es war für das gesamte Team vieles neu und daher auch eine sehr prägende Zeit. Nach meiner ersten Elternzeit promovierte ich bei Prof. Dr.-Ing. Jürgen Gausemeier, der selbst nicht bei Fraunhofer aktiv war. Auf Fraunhofer-Seite hat Prof. Dr.-Ing. Roman Dumitrescu gewirkt, der heute Direktor für den Forschungsbereich Produktentstehung am IEM ist.

Das Team war sehr erfolgreich und konnte die vorgegebenen Kennzahlen erfüllen. Und schließlich wurden wir zum eigenständigen Institut. Durch diese Dynamik bekam ich sehr schnell Verantwortung als Gruppenleiterin und nach einer weiteren Kinderpause übernahm ich die Abteilungsleitung.

Dieses Umfeld bot viele Chancen, wir konnten in alle möglichen Richtungen wachsen und das Thema formen. Die Forschung am Fraunhofer IEM profitierte auch von der Verbindung und der Verankerung der Projekte mit der Industrie. Viele Ansätze im Systems Engineering sind sehr theoretisch oder basieren auf Methoden. Für Unternehmen ist der Nutzen nicht immer sofort ersichtlich. Durch engen Austausch konnten wir eindrucksvoll demonstrieren, was man damit erreichen kann. So wuchsen Wahrnehmung und Bedeutung unserer Arbeit, was natürlich zusätzlich beflügelt. Der Industriekontakt fordert zudem besondere Verantwortung, so dass man persönlich sehr stark wachsen konnte.

Man arbeitet bei Fraunhofer an einem Themenfeld und entwickelt sich weiter, das prägt mich bis heute als Wissenschaftlerin. Was in Paderborn entstanden ist, trage ich als Professorin für Systems Engineering weiter, natürlich mit meinem eigenen Stempel. Mit den Kolleginnen und Kollegen in Paderborn gibt es nach wie vor Austausch. Ich lade beispielsweise ehemalige Kolleginnen und Kollegen ein, in meinen Vorlesungen Projekte oder auch Berufswege vorzustellen. Derzeit konzipieren wir einen Frauen-Netzwerk-Event aus dem KOMMIT Netzwerk für Ehemalige, aktuelle Mitarbeiterinnen und weitere Frauen in der Region. Wir nennen es: „Empower HER: Frauen im Engineering“. Der Verein KOMMIT e.V., ist das Ehemaligen-Netzwerkt des Fraunhofer IEM und des Heinz-Nixdorf-Instituts. Zudem bin ich im Vorstand des IWF e.V., dem Verein der Freunde des Instituts für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetrieb der Technischen Universität Berlin e.V., und ich bin natürlich im Fraunhofer-Alumni e.V..  

 

Wir danken Ihnen für das Gespräch, Frau Kaiser.